RIAS, JFDA und AAS: Deutschlands Antisemitismus-Erklärer auf Abwegen

Wenn es um die Dokumentation antisemitischer Angriffe in Deutschland geht, ist die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) für die Leitmedien und die Politik der Goldstandard. Man zitiert die „Expert:innen“ kritiklos, die von ihnen erhobenen Daten werden als Fakten verbreitet. Erst Ende Mai konstatierten verschiedene Tages- und Wochenzeitungen unter Bezugnahme auf RIAS-Meldungen einen „starken Anstieg antisemitischer Vorfälle“. Ungetrübt blieb das Abschreiben von der bei genauerem Hinsehen nicht besonders wissenschaftlich arbeitenden Institution von Zweifeln, die eine kurz zuvor veröffentliche Studie hätte aufwerfen können. Unter dem Titel „Biased – Antisemitismus-Monitoring in Deutschland auf dem Prüfstand“ hat der israelische Journalist und Datenanalytiker Itay Mashiach evaluiert, auf welcher Grundlage die Recherchestelle arbeitet. Mashiach kam zu dem Schluss: „RIAS’ Methodik verschleiert durchweg den Gesamtkontext der registrierten Vorfälle und klassifiziert diese pauschal als antisemitisch, auch auf Kosten anderer wahrscheinlicher Erklärungen. Dabei missbraucht RIAS Definitionen von Antisemitismus, die an sich schon umstritten sind und sich auf Äußerungen zum israelischen Staat konzentrieren.“

Diese Arbeitsweise von RIAS bringt geradezu skurrile Ergebnisse hervor. So wird für RIAS eine Rede des israelischen Historikers Moshe Zimmermann zum Holocaust-Gedenktag 2020 auf Einladung des Landtags Sachsen-Anhalt zu einem „antisemitischen Vorfall“, weil dessen Auslegung des „Nie wieder“ den Machern der Statistik missfiel. Zimmermann – wohl unbestritten einer der renommiertesten Historiker Israels – steht dann in einer Reihe mit Schändungen von Gedenkstätten und Hitler-Grüßen.

Das Fazit der Studie von Itay Mashiach lautet: „RIAS ist in einer Weise biased, die einer Perspektive auf den Nahostkonflikt Vorschub leistet, die jener der rechten israelischen Regierung entspricht. Die Arbeit von RIAS trägt aktiv dazu bei, den Kampf um Menschenrechte zu unterminieren, insbesondere den von Palästinenser*innen, aber auch von linksgerichteten Israelis und diasporischen Jüd*innen, indem Kritik an Israel und Antizionismus mit Antisemitismus gleichgesetzt wird.“

Raunen ohne Inhalt

RIAS steht damit keineswegs alleine da. Den meisten staatlich geförderten Institutionen zur Antisemitismus-Bekämpfung in Deutschland kann man den gleichen Vorwurf machen. Sie gründen ihre Arbeit nicht nur auf die ohnehin umstrittene IHRA-Definition von Antisemitismus, sondern gehen meistens noch über diese hinaus. Bestimmte Klassifizierungen sind offenkundig stark konstruiert und sehr viele „Vorfälle“ nur unter Voraussetzung einer Reihe von Annahmen und Unterstellungen überhaupt irgendwie als „antisemitisch“ einzuordnen.

Gefördert durch Berliner Landes- und Bundesmittel versucht sich etwa das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e. V. (JFDA) daran, jedwede Charakterisierung von Israel als „imperialistisch“ oder „kolonial“ zu „Antisemitismus“ umzudeuten. In der vom JFDA herausgegebenen Broschüre „Feindbild Israel“ heißt es etwa: „Doch nicht immer sind die antisemitischen Zuschreibungen so offensichtlich. Sie werden häufig durch Chiffren oder Codes verschleiert. Indem der Zionismus von einem Unabhängigkeitsstreben eines verfolgten Volkes in ein imperialistisches Herrschaftsstreben umgedeutet wird, wird die antisemitische Vorstellung des jüdischen Allmachtstrebens aufgegriffen. Durch die Beschreibung Israels als Kolonialmacht oder die Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus wird der Staat als das absolut Böse dämonisiert.“

Das ist wenig mehr als Geraune. Es werden unterschiedliche analytische Kategorien zusammengeworfen und missdeutet. Dass jemand, der Israel als „Kolonialmacht“ beschreibt, damit die theologische oder mindestens moralphilosophische Zuschreibung „absolut böse“ meint, ist frei erfunden. Ebenso die Verknüpfung des Imperialismusbegriffs mit „jüdischem Allmachtsreben“. Nichts davon hat irgendeinen Gehalt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Die Autor:innen haben keine Ahnung, was Imperialismus oder Kolonialismus bedeuten. Oder, und das ist wahrscheinlicher, es steht vorab fest, was als „antisemitisch“ diffamiert werden soll und man überlegt sich danach, wie man das zurecht biegt. Auffällig ist allerdings, wie egal dabei eine auch nur halbwegs schlüssige Argumentation zu sein scheint. Die Fördergelder scheinen nicht an die Qualität des Geschriebenen gebunden zu sein.

Die genannte Broschüre etwa zeichnet sich insgesamt durch ein äußerst klägliches intellektuelles Niveau aus und produziert so den ein oder anderen unfreiwilligen Kalauer. Über Siedlungen lernt man etwa: „Die Siedlungen im Westjordanland sind keine Folge einer kolonialen Politik Israels, sondern haben für den Staat innen- und sicherheitspolitische Gründe.“ Oder: „Es ist unbestritten, dass es im Nahostkonflikt zu zivilen Opfern kommt. Zu behaupten, dass diese jedoch von Israel ‚umgebracht‘, also mit Vorsatz getötet würden, bedient einen antisemitischen Mythos.“ Und unter der Erklärung, warum die Parole „Free, free Palestine“ antisemitisch sein soll, findet sich die Bemerkung: „Es stellt sich jedoch die Frage, wovon Palästina überhaupt befreit werden soll.“ Kolonialismus, Imperialismus, ein Genozid, Apartheid, das gezielte Aushungern von Zivilisten oder dergleichen kann es per definitionem nicht sein, denn die entspringen ja nur antisemitischen Wahnvorstellungen.

Grüße aus dem Mittelalter

Wer genauer wissen will, wann ein Satz antisemitisch ist und wann nicht, kann das auf einer Homepage namens stopantisemitismus.de nachprüfen. Dort finden sich – immer eingepflegt zwischen tatsächlich antisemitische Sätze – als Muster für Antisemitismus Statements wie dieses einer Duisburger Schülerin: „Wenn Israel Kinder umbringt, dann schweigt die ganze Welt. Aber wehe ein Palästinenser wirft einen Stein, dann berichtet die ganze Welt darüber.“ 35 solche Beispiele weist das von der Zeit in Kooperation mit der aus Landes- wie Bundesmitteln geförderten Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA) betriebene Bildungsprojekt aus und gibt Ratschläge, wie man denen, die solches äußern, zu entgegnen habe.

Was ist nun an dem Gesagten antisemitisch? „Das Bild Israels als „Kindermörder“ basiert auf einem jahrhundertealten antisemitischen Stereotyp“, wird man aufgeklärt. „Der Sprecher in diesem Zitat verteufelt mit diesem Vorwurf Israel, stellt Israelis generell als Mörder*innen von Kindern dar.“ Konnte die 8-Klässlerin noch zwischen einem Staat (Israel) und seinen Untertanen (Israelis) unterscheiden, scheint das die Expert:innen hinter dieser Webseite schon zu überfordern. Der eigentlich Kern des Antisemitismus-Vorwurfs liegt aber in der Rückführung des Satzes auf mittelalterliche Ritualmordlegenden. Das ist die bei allen Antisemitismus-NGOs und Stiftungen gängige Deutung der Demonstrationsparole „Kindermörder Israel“, die konsequenterweise auch in allen Statistiken zu antisemitischen Vorfällen bei jeder Demo protokolliert wird.

Es wird gebetsmühlenartig suggeriert, dass es sich dabei grundsätzlich nie um eine Abneigung gegen das Töten von Kindern während der aktuellen Kriegshandlungen handelt, sondern stets um den (unbewussten) Reflex uralter judenfeindlicher Mythen. In der Formulierung der aus hessischen Landesmitteln geförderten Projektseite antisemitismus.wtf: „Der Spruch ‚Kindermörder Israel‘ geht auf eine Jahrhunderte alte Verschwörungserzählung zurück, die fest in der europäischen Gesellschaft verankert ist – die Ritualmordlegende. Diese besagt, dass Jüdinnen_Juden christliche Kinder entführen und töten, um deren Blut zu trinken oder mit dem Blut Matzen, ein ungesäuertes Brot, zu backen. Heute wird Israel unterstellt, mit Absicht das Blut arabischer Kinder zu vergießen.“ Ob das auch die Grundlage für „Kindermörder Erdogan“ – Rufe auf zahlreichen Demonstrationen gegen die türkischen Kriegsverbrechen in Kurdistan ist, oder ob nicht einfach das Töten von Kindern durch bestimmte Staaten den Anlass geben könnte, wird nicht näher erklärt.

In der Begründung, was nun an der Parole antisemitisch ist, spielt für die Macher von antisemitismus.wtf übrigens der herbeihaluzinierte historische Kontext nun keine Rolle mehr. Vielmehr heißt es: „Der Staat Israel wird durch die Behauptung, er würde gezielt Kinder umbringen, delegitimiert. Wer Kinder absichtlich umbringt, hat sein Existenzrecht verloren – das ist die Meinung, die sich hinter diesen Aussagen verbirgt.“ Und weiter: „Dem israelischen Staat wird hier nicht nur unterstellt, spezifisch Kinder töten zu wollen, sondern dies auch jederzeit überall tun zu können. Dass Israel palästinensische Gebiete nicht einfach so angreift und es sich hier um Verteidigungshandlungen handelt, wird nicht erwähnt.“ Hier wird en passant verraten, was der Zweck der Übung ist: Um sich nicht dieser speziellen Form des Antisemitismus verdächtig zu machen, soll man alles, was Israel tut, als „Verteidigungshandlung“ ansehen.

Was möge man nun der vermeintlich in Ritualmordlegenden befangenen Schülerin entgegnen?Stopantisemitismus.de empfiehlt, man frage zunächst: „Was hat das mit dir zu tun?“ Stark. Und dann erinnere man daran: „Auch einen Stein zu werfen, kann töten. Ob in Deutschland oder in Israel: Wer Steine wirft, macht sich aufgrund einer fahrlässigen Körperverletzung strafbar.“ Wichtig ist in jedem Fall einzugreifen, denn solch „gewaltvolle Aussagen“ wie die der 8-Klässlerin „bedürfen der Intervention“. Welches Delikt man begeht, wenn man 20 000 Kinder in einem Freiluftgefängnis umbringt und ob das womöglich einer Intervention bedarf, bleibt in der Erläuterung offen.

Antisemitische Präpositionen

Der inhärente „Antisemitismus“ einer anderen Parole wird von der Amadeu Antonio Stiftung (AAS), quasi der Kaderschmiede einer „links“ angemalten bedingungslosen Israel-Unterstützung, staatsräsonkonform ausgedeutet: „From the river to the sea, Palestine will be free“. Die Verleumdung dieses Slogans, der in Deutschland im Verlauf der Proteste gegen den Gaza-Genozid zu der kriminalisierten Parole schlechthin wurde, braucht ein paar Unterstellungen. Denn die Parole selbst enthält ja keine Festlegung, worin das geforderte freie Palästina bestehen soll. Wird (und davon kann man zumindest bei ihrer Verwendung auf linken und säkularen Demonstrationen eher ausgehen) dabei ein gemeinsamer, demokratischer (oder sozialistischer) Staat mit gleichen Rechten für alle Bevölkerungsgruppen auf dem historischen Territorium Palästinas gemeint, ist die Parole nicht antisemitisch. Eine ganze Denktradition – auch namhafter israelischer Intellektueller wie Ilan Pappé oder Yehouda Shenhav – rund um den Konflikt, die sogenannte Einstaatenlösung, geht in diese Richtung.

Für die AAS, die den Slogan sogar als Beispiel für Antisemitismus im öffentlichen Raum plakatieren lässt, zählt aber nicht, was der Slogan meint und ob das in ihm Gemeinte sinnvoll für die Zukunft der israelischen und palästinensischen Gesellschaft ist. Worum es ihr geht, ist, ihn unsagbar zu machen. „Das ist nicht nur verkehrt, sondern antisemitisch“, kommentiert die AAS den Spruch. „Denn: Wer fordert, Palästina solle vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer reichen, lehnt nicht nur eine Zwei-Staaten-Lösung ab, sondern spricht Israel das Recht ab, zu existieren“, fabuliert die Stiftung.

Hinter dem Vorwurf, alle kritischen Stimmen „sprechen Israel das Recht ab, zu existieren“, steht stets die – ihrerseits theoretisch recht schlecht begründete – Theorie, Israel sei der „Schutzraum“ aller Jüd:innen und wer den abschaffen wolle, der will ja konsequenter Weise, dass sie ungeschützt sind. Man sieht auch hier: Es müssen wieder allerlei Konstruktionen zur Hilfe genommen werden, um eine als feindlich markierte politische Theorie – in dem Fall die Einstaatenlösung – anzugreifen. Oder wie es die Historiker Amos On und Alon Confino in einem lesenswerten Beitrag zum Thema formulierten: „Diesen Slogan als „antisemitisch“ zu bezeichnen, ist ein mächtiges Instrument in den israelischen, deutschen und anderen politischen toolboxes, um die Existenz des palästinensischen Volkes und seine Verbindung zu Palästina zu leugnen, die Besatzung und Unterdrückung zu verfestigen und den Schrei nach Freiheit und nach Recht zum Schweigen zu bringen.“

Die Passage formuliert das Ziel der deutschen NGOs und Stiftungen ganz gut: Die Auseinandersetzung, ob die gegnerische Theorie richtig oder falsch, realistisch oder utopisch und dergleichen ist, soll gerade nicht geführt werden. Vielmehr sollen ihre Vertreter:innen erst diffamiert und wenn’s ricchtig gut läuft, gleich auch noch von Behörden und Polizei mit Repression bedacht werden.

Misst man die AAS und die ihr ähnlichen Stiftungen an letzterem Kriterium, kann man sie als durchaus erfolgreich bezeichnen. In Deutschland ging jedenfalls der Behördeneifer so weit, dass selbst die Präpositionen „Von… bis…“ mit beliebigen geographischen Markierungen oder Inhalten auf Demonstrationen zu polizeilichem Eingreifen führten.

Völlige Willkür

Das „Existenzrecht“ Israels ist für die diversen mit Antisemitismus befassten NGOs und Stiftungen ein zentrales Vehikel zur Diffamierung unterschiedlichster Auffassungen. Der Trick ist simpel: Wann immer jemand etwas kritisiert, kann man dem Kritiker unterstellen, er würde damit auf das Ende der Existenz Israels hinwirken. Das wird schon im Beispiel-Anhang der IHRA-Definition vorexerziert: „Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“, sei Antisemitismus. Auch hier folgt das eine wieder einmal nicht aus dem anderen: Die These, dass dieser ganz konkrete Staat mit seiner konkreten Verfasstheit ein „rassistisches Unterfangen“ sei, hat erst mal nichts damit zu tun, wie man sich zum „Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“ stellt. Man kann sogar noch weiter gehen und die Frage stellen, ob generell die These, dass jedes Volk seine Selbstbestimmung nur durch eine Staatsgründung durchsetzen zu vermag, richtig ist. Und wenn man über irgendeine Art von Staatskritik verfügt, wird man vielleicht auch die Selbstbeschreibung bürgerlicher kapitalistischer Staaten, „Schutzraum“ ihrer Bürger zu sein, auch im Fall eines jüdischen Schutzraums als Propaganda zurückweisen. In jedem Fall ist aber nichts davon inhärent antisemitisch. Man kann problemlos die Forderung vertreten, dass man diesen Staat, so wie er jetzt ist, zugunsten eines anderen, der eben dann nicht mehr ein rassistisches, imperialistisches, auf Apartheid gegründetes Unterfangen ist, auflösen will. Darin steckt keineswegs, dass es den Jüd:innen auf seinem Territorium schlecht ergehen soll. Im Gegenteil. Was die Stiftungs- und NGO-Schreiber:innen aber sagen wollen, ist: Genau dieser Staat, so wie er jetzt ist, soll so bleiben, wie er ist. Und wer das nicht möchte, bestreitet ihm sein „Existenzrecht“. Auch hier passiert wieder dasselbe wie in den vorangegangenen Beispielen: Es soll nicht mehr diskutiert werden, was richtig und falsch ist, sondern die israelische Staatsideologie soll kodifiziert und durchgesetzt werden.

Die Auslegung des Existenzrechts der Antisemitismus-Erklärer ist dermaßen eng, dass im Grunde jede Kritik an Israels Politik gegenüber Palästinensern darunter fällt. RIAS zum Beispiel wertet jede Nennung von „Apartheid“ oder „Genozid“ als „antisemitisch“, weil wahlweise „delegitimierend“ oder „dämonisierend“ (Bspw. Hier in den Fallbeispielen). Mit „Dämonisierung“ und „Delegitimierung“ ist ein weiterer Baustein im Bullshit-Bingo rund um den Antisemitismus-Begriff angesprochen: Der bei allen diesen NGOs gängige sogenannte 3-D-Test auf israelbezogenen Antisemitismus. Der aus der Feder des israelischen Politikers Natan Sharansky stammende „Test“ soll jede Aussage daraufhin überprüfen, ob sie Israel „delegitimiert“, „dämonisiert“ oder „doppelte Standards“ anwendet. Die 3-D sind in Deutschland offizieller Bestandteil der Bemühungen im Kampf gegen Antisemitismus und werden von allen genannten NGOs, Stiftungen und Projekten gelegentlich hervorgekramt, wenn es von Nöten ist.

Der Test ist letzten Endes ein reines Willkür-Instrument, vor allem, wenn er als Grundlage zur Fall-Erfassung von antisemitischen Handlungen genutzt wird. Die diversen NGOs unterstellen dann einfach die gewünschte Deutung eines Slogans, einer Parole oder Bemerkung und werten diese auf Grundlage ihrer eigenen Interpretation als antisemitisch. Das „Berliner Register“ – auch finanziert aus Landesmitteln – z.B. zählt mittels dieser Strategie Sticker mit der Aufschrift „No Pride in israeli Apartheid“ als „antisemitisch“. Neben zahlreichen derartigen „Delikten“ fragt man sich bei manchen „Vorfällen“, ob sich die Klassifizierer selbst einen Witz aus der Sache machen. Ein Beispiel ebenfalls aus dem Berliner Register: „In unmittelbarer Nähe der Bus- und Tramhaltestelle ‚Pankow Kirche‘ wurde ein offizielles Schild, dass auf die Städtepartnerschaft zwischen Pankow und der israelischen Stadt Ashkelon hinweist, erneut beschmiert und unkenntlich gemacht. Diesmal mit folgendem Wortlaut ‚Stop [sic!] Genozide!‘. Die Unkenntlichmachung des Schildes kann als antisemitische Delegitimierung von Israel und der israelischen Partnerstadt bewertet werden.“ Hier ist die „Unkenntlichmachung des Schildes“ einer Städtepartnerschaft ein Akt „antisemitischer Delegitimierung von Israel“. Monty Python lässt grüßen.

Aus dem Diskurs in die Wirklichkeit

Die dutzenden auf dieser Grundlage arbeitenden „NGO“s, Stiftungen, Vereine und Projekte haben zusammen mit direkt staatlichen Meinungsbekundungen und zahlreichen Leitmedien ein selbstreferentielles System der Ausdeutung von Antisemitismus entworfen. Man zitiert sich gegenseitig. Die Praktikanten der einen werden zu den Referenten der anderen. Man verweist auf gemeinsame Bildungsmaterialien und nimmt die von den jeweils anderen erhobenen Fälle von israelbezogenem Antisemitismus zum Beleg der eigenen Theorien.

Die vermeintlichen Erkenntnisse dieser „Forschung“ finden Eingang in Materialien für Schulen und in die Erwachsenenbildung. Die Vermischung mit vernünftiger und wichtiger Aufklärung über Antisemitismus sowie Gedenkarbeit, die neben dem Irrsinn in Sachen Israel auch noch stattfindet, macht es umso schwerer für Leser:innen des Materials zu unterscheiden, was hier tatsächlich der Aufklärung über Antisemitismus dient und was schlichtweg die Durchsetzung deutscher Staatsräson in einer umkämpften Debatte ist.

Die Auswirkungen, die diese Art von ideologischer Vorarbeit hat, sind dabei längst nicht mehr auf den Bereich der Argumente beschränkt: Die genannten Parolen werden vor Gericht verhandelt; die Knüppel auf die Köpfe derjenigen, die sie auf Demonstrationen gerufen oder auf Transparente gemalt haben sollen, sind keineswegs nur diskursiv. Öffentliche Räume werden denjenigen verwehrt, die sich weigern, das israelische Recht darauf, Gaza in Schutt und Asche zu legen, anzuerkennen. Jobs werden gekündigt, Konzerte abgesagt, Kunstaustellungen verunglimpft.

Kritische Studien und jener Teil der Antisemitismus-Forschung, der sich nicht den Propaganda-Interessen des israelischen und/oder des deutschen Staats unterwirft, werden so aus dem Diskurs gedrängt. Die teilweise durch keine nennenswerten Publikationen bekannten Exponenten diverser staatsfinanzierter Stiftungen und NGOs avancieren so zu anerkannten Experten in Sachen Antisemitismus, während jüdische Intellektuelle wie Moshe Zuckermann, Judith Butler oder Nancy Fraser in Deutschland „gecancelt“ werden. Was bleibt ist angesichts der zunehmenden Brutalität bei der Ermordung und Vertreibung der Palästinenser:innen ein staatlich finanzierter Bärendienst am Kampf gegen den Antisemitismus.

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