Haiti: Imperialismus ist keine Krise

Wie sich der Kolonialismus in Haitis Kampf um Befreiung fortsetzt: Journalist und Aktivist Jackson Jean im Gespräch über Imperialismus, Widerstand und die Vision von 1804.

In Haiti ziehen weiterhin Massenproteste über das Land. Seit der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 spitzt sich auch die Gewalt bewaffneter Gruppen an der Zivilbevölkerung zu. Entgegen gängiger Darstellungen sind Hungersnot, Polizeibrutalität, Gewalt und der Zusammenbruch ziviler Infrastruktur aber keine sich zufällig ergebende „humanitäre Krise“, sondern Produkt jahrhundertealter Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen.

Jackson Jean arbeitet als Journalist und Aktivist zu Antirassismus, Migration und postkolonialer Befreiung. Der Aufbau transnationaler Solidarität hin zu sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Gerechtigkeit für afrodiasporische und haitianische Gemeinschaften steht im Fokus seiner Arbeit. Dabei versteht er die aktuelle Situation in Haiti nicht nur als Krise, sondern eben auch als Teil eines unvollendeten Befreiungskampfes – so Jean im Gegenwind-Interview.

Brennende Straßenbarrikaden – ein Protestmittel unter vielen
© Carlin Trezil

Seit 2018 erlebt Haiti wiederholt Massenproteste. Welche Kräfte treiben diese Aufstände an und welche Formen des Widerstands sind daraus entstanden?

Die Proteste, die wir seit 2018 beobachten können, sind Teil eines längeren Kampfes gegen tief verwurzelte Ungerechtigkeit. Es geht dabei nicht nur um Benzinpreise oder politische Korruption – sondern um die umfassende Ablehnung eines Systems, das die Mehrheit der Haitianer:innen in Armut hält, während es den Interessen einer kleinen Elite und ausländischer Kräfte dient. Die Aufstände sind in einem kollektiven Gedächtnis des Widerstands verwurzelt, von der Revolution 1804 zu den heutigen Straßenmobilisierungen. Was so kraftvoll daran ist, ist wie Menschen in vielfältiger Form Widerstand leisten: durch Protestmärsche, Barrikaden, soziale Medien, Musik und sogar spirituelle Praktiken, die im Vodou verwurzelt sind. Das zeigt, dass die politische Vorstellungskraft Haitis nicht gestorben ist – sie entwickelt sich angesichts neuer Herausforderungen weiter.

Gesichter des Widerstands
© Carlin Trezil

Die aktuellen Verhältnisse in Haiti werden oft als humanitäres Problem dargestellt. Aber jenseits der unmittelbaren Gewalt – welche tieferliegenden Dynamiken sind der Grund dafür?

Die Darstellung als reine „humanitäre Krise“ wird der Realität nicht gerecht. Was wir tatsächlich sehen, ist das Ergebnis von Jahrhunderten struktureller Gewalt – verwurzelt in Rassismus, Klassenunterdrückung und kolonialer Herrschaft. Das alles ist nicht mit der Unabhängigkeit Haitis verschwunden. Vielmehr wurde das Ganze durch Auslandsschulden, internationale Interventionen und die anhaltende Kontrolle unserer Wirtschaft durch globale Institutionen neu geformt. Der sogenannte „Zusammenbruch“ Haitis ist eigentlich vielmehr das Resultat eines Systems, das darauf ausgelegt ist, die Mehrheit der Menschen arm und machtlos zu halten, während Reichtum und Entscheidungsgewalt in den Händen einiger Weniger konzentriert sind. Die Erzählung als humanitäres Problem verschleiert oft diese politischen Wahrheiten und deutet den Kampf um Gerechtigkeit in eine Geschichte der Hilflosigkeit um.

Der Putsch von 2004, in dem Jean-Bertrand Aristide seines Amtes als Präsident durch rechts-reaktionäre Paramilitärs enthoben wurde, kann als Wendepunkt der jüngeren haitianischen Geschichte verstanden werden. Wie prägen die Folgen die heutige politische und soziale Ordnung?

Der Putsch von 2004 war ein entscheidender Moment, der zeigte, wie fragil Haitis Demokratie unter äußerem Druck war. Es ging nicht nur um die Absetzung eines Präsidenten – es war ein direkter Angriff auf die politische Stimme der Armen und der Arbeiter:innen, die darum gekämpft hatten, Aristide zu wählen. Seitdem konnten wir den Aufstieg eines politischen Systems beobachten, das zunehmend von außen gemanaged wird: durch NGOs, ausländische Diplomat:innen und internationale Organisationen. Das hat zu einem starken Gefühl der Enttäuschung in der Bevölkerung geführt. Vielen Menschen sind die Wahlen inzwischen egal, weil die tatsächliche Macht nicht bei den haitianischen Wähler:innen liegt. Der Putsch hat auch ausländische Interventionen normalisiert, anstatt Haitianer:innen die Möglichkeit zu geben, ihre Zukunft von unten selbst aufzubauen.

Im Sinne dieser ausländischen Interventionen sind auch Schulden oder Handelsungleichgewichte seit Langem ein zentrales Thema. Welchen Einfluss haben diese Mechanismen auf die Selbstbestimmung Haitis?

Haitis Wirtschaft wurde von Kräften geformt, die weit über die Landesgrenzen hinausgehen. Die independence dept [erzwungene „Entschädigungszahlungen“ nach der Unabhängigkeit Haitis von der Kolonialherrschaft, Anm.d.Red.], die von Frankreich auferlegt wurde oder die Politiken des Internationalen Währungsfonds, die die lokale Landwirtschaft und öffentliche Dienste zerstörten, sind nur zwei Beispiele. Schulden, Handelsregeln und Entwicklungskredite sind Werkzeuge, die oft als neutral oder hilfreich dargestellt werden. In Wirklichkeit sind das aber Kontrollinstrumente. Sie entziehen nämlich Ländern wie Haiti die Möglichkeit, im Interesse ihrer eigenen Bevölkerung Entscheidungen zu treffen. Stattdessen landen wir dann dabei, die Rückzahlung von Schulden höher zu werten als Gesundheit, Bildung oder Ernährung. Das schafft eine Art Scheinsouveränität. Der Staat existiert auf dem Papier, aber die Machtverhältnisse liegen wo anders. Wahre Selbstbestimmung würde bedeuten, sich von diesen Systemen zu lösen und neue Wirtschafts- und Regierungsmodelle zu entwickeln, die auf Würde und Gerechtigkeit beruhen.

Dabei spielen auch die „Entwicklungshilfe“ und Investitionsprogramme eine Rolle. Wie wirken sich diese aus?

Ein gutes Beispiel dafür sind die von Bill und Hillary Clinton geführten Entwicklungsprojekte, insbesondere die nach dem Erdbeben, die weniger auf „Entwicklung“ ausgerichtet waren als auf die Ausweitung eines kapitalistischen Abhängigkeitsmodells. Diese Interventionen haben die Interessen transnationaler Konzerne priorisiert. Freihandelszonen, Sweatshops und Tourismuszentren wurden über die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung gestellt. Wissenschaftler:innen wie Naomi Klein bezeichnen das als Katastrophenkapitalismus: Das meint die Ausnutzung von Katastrophen zur Durchsetzung neoliberaler Reformen, die unter normalen Umständen auf Widerstand stoßen würden. Was dabei so bedenklich ist, ist dass diese sogenannten humanitären Interventionen oft die haitianische Souveränität untergraben haben, in dem sie lokale Regierungen und zivilgesellschaftliche Strukturen umgehen und Entscheidungen in die Hände von Geber:innen und Technokrat:innen legen.

Ein Teil dieser „Hilfen“ sind auch Nahrungsmittelexporte. US-Exporte haben dabei die Selbstversorgung zerschlagen. Welche Folgen hat das für die Landbevölkerung?

Diese politische Entwicklung war kein Zufall – sie war strategisch geplant. Als die USA Haiti in den 1990er Jahren unter Druck setzten, die Zölle zu senken, wurde der Markt mit subventioniertem Reis überschwemmt, was dann die lokale Produktion ruiniert hat. Ex-Präsident Clinton gab später zu, dass das ein „Fehler“ war, der Schaden war aber bereits angerichtet. Das entspricht dem, was Samir Amin eine „extraverted economy“ nennt: eine Wirtschaft, die auf das Bedienen ausländischer Märkte ausgerichtet ist, anstatt auf die eigenen Bedürfnisse. Die Zerstörung der heimischen Landwirtschaft führte zur Zersplitterung der bäuerlichen Gemeinschaften und Überlastung städtischer Räume, denen schon davor grundlegende Infrastruktur fehlte. In diesem Sinne ist das urbane Prekariat kein Planungsversagen – es ist Produkt eines imperialistischen Planungssystems.

Aktivist und Journalist Jackson Jean
© Jackson Jean

Diese Internationale „Hilfe“ ging, wie du gesagt hast, oft Hand in Hand mit neoliberaler Umstrukturierung. Wie hat dieses Modell Abhängigkeiten und Widerstand geprägt?

Diese „Hilfe“ hat in vielen Fällen den haitianischen Staat ersetzt, anstatt ihn zu stärken. Wie Arturo Escobar warnt, verschleiern Entwicklungsdiskurse häufig asymmetrische Machtverhältnisse, in denen der Globale Norden sowohl Problem als auch Lösung definiert. In Haiti hat das zur Entstehung einer Struktur geführt, die als eine Art Parallelregierung bezeichnet werden kann. Diese wird dominiert von NGOs und internationalen Akteur:innen. Das ist eine Struktur, die lokale Institutionen entmachtet und Abhängigkeit fördert. Aber es wächst auch Widerstand innerhalb dieses Systems. Gemeinschaftsorganisationen, informelle Ökonomien und kulturelle Netzwerke fordern und verschaffen sich Gehör und Räume. Die Herausforderung besteht darin, von einem Modell des „Helfens“ zu einem der Solidarität überzugehen, das sich aus Verantwortungsübernahme ergibt.

Der politische Diskurs um Haiti dreht sich momentan viel um die sogenannte Banden-Kriminalität als Sicherheitsproblem. Aber woraus ergeben sich diese Entwicklungen denn tatsächlich?

Die Reduzierung dieser Krise auf ein „Sicherheitsproblem“ ist gefährlich vereinfachend. Die Waffenzirkulation – die meisten Waffen stammen aus den USA – und die militärische Eskalation sozialer und ökonomischer Not stehen in einem direkten Zusammenhang mit globalen Waffenmärkten und einem politischen Vakuum. Diese Krise ist ein sozialer Zusammenbruch – das Ergebnis des Zerfalls von Institutionen, die einst Nachbarschaften zusammenhielten. Schulen, Kliniken, Arbeitsplätze, kulturelles Leben. Achille Mbembe spricht in diesem Zusammenhang von „Nekropolitik“, also der Macht, bestimmte Bevölkerungen dem Tod auszusetzen. In diesem Licht ist die „Banden-Kriminalität“ Ausdruck einer Gesellschaft, die dem Chaos überlassen, gleichzeitig aber überwacht und stigmatisiert wird.

Donald Trump hat einige haitianische Banden als „Terrorgruppen“ eingestuft. Welchen Einfluss hat das?

Die Einstufung dieser Akteure als „Terroristen“ blendet die strukturellen Ursachen der sozialen Ungleichheit und politischen Ausgrenzung vollkommen aus. Das Problem in eine Logik des globalen „Kriegs gegen den Terror“ zu stellen, rechtfertigt eine verstärkte militarisierte Intervention. So werden innere Krisen zur Legitimation von externer Kontrolle genutzt. Wie Jasbir Puar und andere warnen, führt die Rhetorik des Terrorismus oft zu einer Rassifizierung und Entmenschlichung ganzer Bevölkerungen und versperrt politische Lösungen zugunsten repressiver und strafender Maßnahmen. Das alles verstärkt die Vorstellung, dass die haitianische Gesellschaft eine „Bedrohung“ sei – statt eine Gemeinschaft, die nach Würde und Frieden strebt.

Frankreichs Erhebung einer „Unabhängigkeits-Schuld“ nach 1804 legte den Grundstein für die heutige Ausbeutung Haitis. Wie kann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem kolonialen Raub heute aussehen?

Eine echte Aufarbeitung erfordert sowohl materielle Wiedergutmachung, als auch epistemische Gerechtigkeit [Gerechtigkeit im Umgang mit Wissen, Ideen und Erfahrungen, Anm. d. Red.]. Die von Frankreich auferlegten Schulden waren nicht nur finanzieller Natur – sie waren eine Strafe dafür, sich zu trauen, eine Schwarze Freiheit zu denken. Wie Jean Casimir schreibt, war das haitianische Projekt nach 1804 eines der Autonomie und Würde, das durch die globale Ordnung systematisch zerstört wurde. Reparationen hierfür müssen über symbolische Entschuldigungen hinausgehen – sie müssen Rückgabe von Land, Bildungsaustausch, Bewegungsfreiheit, Schuldenerlass und den Abbau rassistischer Finanzstrukturen bedeuten. Der heutige Reichtum Frankreichs basiert auf diesem ursprünglichen Diebstahl – und eine Anerkennung dessen muss die konkrete Rückgabe beinhalten, keine symbolischen Akte. Dazu gehört auch die Umgestaltung von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen mit einer Machtverschiebung hin zu haitianisch geführten Initiativen und Wissenssystemen. Es geht darum, die Zukunft wiederaufzubauen, die durch den Kolonialismus ausgelöscht werden sollte.

Welche Kräfte oder Bewegungen können diese Zukunft denn bauen?

Ich sehe Hoffnung im Entstehen von transnationalen Schwarzen und indigenen Bewegungen, die Kapitalismus, anti-Schwarzen Rassismus und Rassismus insgesamt sowie das Patriarchat gleichzeitig herausfordern. In Haiti formulieren Jugendbewegungen, feministische Gruppen und bäuerliche Basisorganisationen Forderungen nach Würde, Land und Leben. Auch die Diaspora spielt eine entscheidende Rolle, indem sie Kämpfe über Grenzen hinweg vernetzt. Befreiung bedeutet für mich, die Vision von 1804 wiederherzustellen – nicht als eingefrorenen Moment, sondern als unvollendetes Projekt. Das heißt auch, die Ketten der Abhängigkeit zu sprengen, die Haiti an ausländisches Kapital und Herrschaft fesseln. Wie Fanon sagt, ist Dekolonisierung ein Programm des „totalen Umsturzes“. Das ist kein Chaos, sondern eine Umordnung von Werten und Prioritäten. Haitis Befreiung ist für mich nicht nur eine nationale Frage – sie ist ein Leuchtfeuer für weltweite Schwarze Freiheit. In internationaler Solidarität geht es dabei nicht darum, Haiti zu retten, sondern gemeinsam für Gerechtigkeit zu kämpfen – in dem Wissen, dass unsere Befreiungen miteinander verknüpft sind.

Verwobene Kämpfe: Palästinasolidarität auf den Straßen Haitis
© Carlin Trezil

Kommentare

Falls ihr uns einen Leserbrief schreiben wollt, könnt ihr das gerne per E-Mail tun. Wir veröffentlichen Leserbriefe nach redaktioneller Prüfung an dieser Stelle. Unsere E-Mail-Adresse samt zugehörigem PGP-Schlüssel findet ihr hier.