Kommt die sozialpolitische Zeitenwende?

Nun steht der Koalitionsvertrag der fünften Großen Koalition. Am 9. April verkündeten die Parteivorsitzenden geschlossen ihren endgültigen Willen zur Zusammenarbeit in den kommenden 4 Jahren. Auf 144 Seiten haben sich CDU/CSU und die SPD unter dem Titel „Verantwortung für Deutschland“ auf eine sozialpolitische Zeitenwende geeinigt. Wie zu erwarten war. Nach der Zustimmung durch die CSU, werden der CDU-Bundesausschuss und die SPD-Parteibasis staatstragend bis Ende April ihre Zustimmung erteilen, damit voraussichtlich am 6. Mai Friedrich Merz nach unzähligen Fehlversuchen endlich zum Deutschland-Kanzler gewählt werden kann.

Um es kurz zu machen: Die großen, neuen Paukenschläge bleiben – sieht man vom vorab durchgewunkenen 500 Milliarden Easy-Credit ab – aus. Stattdessen füllen die Seiten viele Absichtserklärungen und blumige Worte wie “Deutschland wieder nach vorn” (CDU-Wahlkampagne) gebracht werden kann. Alles, was in konservativer Mittelschicht und Kleinbürgertum während der Ampel-Jahre auf Widerstand stieß, wird widerrufen und die Zeit zurückgedreht. Heizungsgesetz, Selbstbestimmungsgesetz, Bürgergeld. Nur einige sozialpolitische Neuerungen haben es in sich.

Wie schon beim ersten Sondervermögen, und wahrscheinlich allen größeren Entscheidungen der Vergangenheit, lagen weit mehr Vorschläge bereit, als der Öffentlichkeit bekannt ist. Um die allgemeine Stoßrichtung zu verstehen macht es Sinn, sich die Ideengeber:innen genauer anzuschauen. So zum Beispiel die »Initiative für einen handlungsfähigen Staat« um die Exminister Thomas de Maizière (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) sowie die Top-Managerin Julia Jäkel (Munich Rück, Google Cloud Europa) und den bekannten Verfassungsrechtler Andreas Voßkuhle. Sie sind mit ihrer im März veröffentlichten Studie ganz klar die Stichwortgeber:innen für den Koalitionsvertrag. Begonnen haben sie mit dieser Arbeit nach eigener Aussage übrigens schon im Sommer 2024. Also weit vor dem Bruch der Ampel.

Die Kernthese der Studie lautet, dass es durch die Blockade „wichtiger Veränderungen“ in der Organisation des Staates seit Jahren einen Schwund des Bürgervertrauens gebe. Insbesondere die weiteren Thesen zur grundlegenden Staats-Verschlankung erinnern nicht nur an Haushaltskürzungen unter Leitung der neuen US-Behörde für Regierungseffizienz (DOGE) von Elon Musk und Donald Trump, sondern an neoliberale Standard-Glaubenssätze hiesiger Unternehmensberater:innen. Das eigentliche Resultat solcher Restrukturierungen und Privatisierungen waren allerdings nie mehr Effizienz, sondern höhere Kosten und schlechtere Leistungen. Siehe Hartz IV, Deutsche Post oder Deutsche Bahn.

Gleichzeitig wird darüber sinniert, wie solche Veränderungen zukünftig höhere Zustimmungen erfahren können. Es geht darum, wie die soziale wie militärische Zeitenwende und die Demokratie als solche hegemonial abgesichert werden kann.

Dem selben Problem begegnen auch die Koalitionär:innen und halten sich bei grundlegenden Fragen, insbesondere der Finanzierung von Erleichterungen und sozialer Absicherung, bedeckt. Diese Unklarheit wird jetzt zum Problem. Die einfache sozialdemokratische Rechnung lautet: „Hat der Bürger mehr Geld in der Tasche hält er brav seinen Mund.“ Dass er das, wie im Wahlkampf und im Koalitionsvertrag suggeriert, wirklich am Ende der nächsten Regierung haben wird, ist stark zu bezweifeln. Denn kurz nach Bekanntgabe verkündeten Bald-Kanzler Merz und SPD-Chef Klingbeil schon gänzlich unterschiedliche Interpretationen, beispielsweise zur Mindestlohnerhöhung und Steuersenkungen für kleine Einkommen.

Aber was genau steht dazu im vorliegenden Koalitionspapier?

Demoschild “Merz, Du Hund”, Bild: Stephan Sprinz – Own work, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=158996892

Abschaffung des Bürgergelds

Das Bürgergeld wird in der bestehenden Form abgeschafft. Der Vermittlungsvorrang soll wieder gelten. Also die Maßgabe, Menschen schnellstmöglich in irgendeinen Bullshit-Job zu vermitteln, ob sie wollen oder nicht. Andernfalls drohen dann wieder verschärfte Sanktionierungen bis zum vollständigen Entzug der Leistungen. Trotz gegenläufigem Verfassungsgerichtsurteil. Auch wenn nachgewiesenermaßen nur 0,4 % der Bürgergeldempfänger:innen für sich tatsächlich völlig ausschließen, irgendeiner Arbeit nachzugehen, obwohl sie es könnten, soll hier wieder das billige Ressentiment vom faulen Arbeitsverweigerer geschürt werden.

Arbeitszeit und Mindestlohn

Die große Blackbox ist eine angestrebte Flexibilisierung der Arbeitszeiten. In Deutschland gilt der 8-Stunden Tag. Hart erkämpft zu Beginn des letzten Jahrhunderts durch die Arbeiter:innenbewegung. Unter dem Deckmantel von Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll stattdessen eine wöchentliche Höchstarbeitszeit entlang der europäischen Arbeitszeitrichtline von 48 Stunden, bei einer 6-Tage-Woche, maßgebend sein. Die schon jetzt illegaler Weise oft geforderten Überschreitungen sollen also legalisiert werden. Auch interessant: Die noch im Sondierungspapier aufgeführte minimale Ruhezeit von 11 Stunden zwischen 2 Einsätzen fehlt im Koalitionsvertrag.

Als kleines Trostpflaster soll der Mindestlohn auf 15 Euro steigen. Ob das tatsächlich passiert, ist mehr als fraglich, da auch dieses Thema in einer Kommission erstmal geprüft werden soll. Ähnlich sieht es beim Thema Steuererleichterungen für kleine und mittlere Einkommen aus. Auch diese Änderung steht unter einem Finanzierungsvorbehalt und soll sowieso frühestens in 2 Jahren kommen.

Altersversorgung

Hier verkündet die Koalition groß die dauerhafte Sicherung des Rentenniveaus. Ein zentrales Legitimationsargument sozialdemokratischer Politik, gehen doch in diesen Jahren die sogenannten Boomer-Jahrgänge nach und nach in Rente, auf die sich die „Volksparteien“ noch ein paar Jahre stützen wollen. Zusätzlich wird die kapitalgestützte Altersversorgung ausgeweitet. Während die Ampel-Koalition die ersten Schritte mit der Aktienrente genommen hat, folgt nun die Frühstart-Rente als weiterer Fond am Finanzmarkt. Das heißt, zukünftig fließen noch größere Beträge aus der Staatskasse in das globalisierte Finanzsystem, um gewinnbringend eingesetzt zu werden. Hingegen bleiben Vorschläge zur Rettung des kollabierenden Pflegesektors aus.

Miet- und Wohnungsversorgung

Hier wurde zumindest eine Verlängerung der Mietpreisbremse und – fast wichtiger – der „Umwandlungsbremse“ von Miet- in Eigentumswohnungen vereinbart. Damit bleibt zumindest alles wie bisher. Eine Verbesserung für Mieter:innen wird damit nicht erreicht. Gleiches gilt für den angestrebten Ausbau des Wohnungsbestands durch Neubau, ein seit Jahren vorgetragenes Dogma. Bezeichnend ist hier, dass exakt dieselben Zahlen und Quoten erneut vereinbart wurden, die schon im letzten Ampel-Koalitionsvertrag standen. Diese Zahlen wurden um ein Vielfaches verfehlt. Gleichzeitig hat sich die Wohnraumversorgung insbesondere mit Sozialwohnungen weiter massiv verschlechtert. Und auch ein weiterer Aspekt trägt dazu bei, dass die kommende Regierung wieder an ihren veralteten Konzepten scheitern wird. Das neue Sondervermögen gilt als Preistreiber, insbesondere für Baukredite. Das Bauen wird also in den kommenden Jahren eher noch teurer als billiger. Wie unter diesen Vorzeichen die angestrebten Neubauziele erreicht werden sollen, bleibt unklar.

Rückschlüsse

So oder so ist die einhellige Meinung sozialpolitischer Aktivist:innen und NGOs eindeutig. Die Wiedereinführung des Vermittlungsvorrangs und die Abschaffung des 8-Stunden Tags wären immense Rückschläge für die Arbeiter:innenklasse hierzulande. Offensichtliche Probleme wie die explodierenden Mieten oder der Pflegenotstand stehen nicht im Zentrum dieser Koalition.

Mitnehmen lässt sich also Folgendes: Neben der weiter voranschreitenden Militarisierung und Mobilmachung, stärkerer Repression durch Vorratsdatenspeicherung, KI-Auswertung und weiteren Einschränkungen für Migrant:innen, wird die neue Koalition auch Kernelemente des Sozialstaats weiter aushöhlen und bestehende Arbeiter:innenrechte abbauen. Die staatlichen Ideen liegen auf dem Tisch. Es ist nun an der Zeit, dass sich die sozialen Bewegungen und sozialistischen, wie kommunistischen Gruppen neben der Klima- und Friedensfrage auch dem Sozialbereich mit einer fundierten Klassenperspektive widmen. Meine Hoffnung bleibt, dass der Kampf gegen die neuen Sanktionspläne und Arbeitszeitausweitungen Menschen im ganzen Land auf die Straße bringen kann, und dass wir diesen Angriff auf unsere Klasse endlich als solchen erkennen und angemessen antworten.

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