Am 27. Februar veröffentlichte Abdullah Öcalan, der seit Jahrzehnten von der Türkei inhaftierte Vordenker der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), aus der Haft einen Aufruf zur freiwilligen Auflösung seiner Organisation. Vor nunmehr knapp zwei Wochen tagte dann der 12. Kongress der PKK; die Beschlüsse wurden am vergangenen Montag der Öffentlichkeit übermittelt. Im Abschlussdokument der Sitzung heißt es, dass die PKK „ihre historische Mission erfüllt“ habe, indem sie „die Politik der Leugnung und Vernichtung gegenüber unserem Volk durchbrochen und die kurdische Frage an den Punkt geführt hat, an dem sie auf demokratischem Wege gelöst werden kann“. Man stelle alle Aktivitäten „unter dem Namen PKK“ ein, beende den bewaffneten Kampf und löse den organisatorischen Aufbau der PKK auf. Das markiere „den Eintritt unserer Freiheitsbewegung in eine neue Phase“.
Was nach einer bedeutenden Zäsur in der politischen Architektur, sowohl der Türkei, wie des gesamten Mittleren Ostens klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als schwer durchschaubar. Denn was ist eigentlich geschehen? Die ehrliche Antwort für den überwiegenden Teil der Kommentatoren sollte lauten: So richtig wissen wir es nicht.
In die im Hintergrund mit absoluter Sicherheit laufenden Geheimverhandlungen zwischen der PKK, mindestens zwei Regionalmächten und den USA haben wir keinen Einblick. In die inneren Prozesse der kurdischen Arbeiterpartei auch nicht. Wir können das Ereignis einbetten in einen informierten Kontext und wir können bestimmte Erkenntnisse festhalten, die man anhand von öffentlich zugänglichen Informationen haben kann. Zu mehr als einigermaßen fundierten Überlegungen darüber, was nun passieren könnte, wird man nicht kommen. Und mit etwas Glück kann man sich dann noch zwischen den Polen überheblicher Häme und blindem Jubel hindurch manövrieren.
Çay mit Cemil Bayık?
Es ist sicher kein Schaden, sich zunächst in Erinnerung zu rufen, dass die PKK sich nicht zum ersten Mal auflöst und auch nicht zum ersten Mal den bewaffneten Kampf einstellt. Letzterer Beschluss wurde schon einmal auf dem 7. Parteikongress 2000, ersterer auf dem darauf folgenden 8. im Jahr 2002 getroffen. Selbst die Formulierungen zur Begründung sind teilweise exakt identisch. Auch 2002 hieß es, die PKK habe „ihre historische Mission erfüllt“ und „die Möglichkeiten für die Lösung der kurdischen Frage auf der Grundlage der Demokratie sind entstanden.“ Nun war das offenkundig nicht der Fall, ging der bewaffnete Kampf ja bis heute weiter. Die Auflösung von 2002 war im Wesentlichen eine temporäre Umbenennung und der ehrliche Versuch, friedlich die eigenen politischen Ziele zu erreichen. Als klar wurde, dass das mit dem türkischen Staat nicht zu machen sein würde, ging notgedrungen auch der bewaffnete Kampf weiter.
Man muss sich eine weitere Unklarheit der aktuellen Selbstauflösung in Erinnerung rufen: „Die PKK“ ist nicht einfach eine eng umgrenzte Struktur, die aus einer klar abgrenzbaren Partei besteht. Es gibt ein Netzwerk aus dutzenden zivilenwie militärischen Organisationen, die alle mehr oder weniger „PKK“ sind, ohne so zu heißen, die in jedem Fall aber an die ideologischen und politischen Zielsetzungen der Partei anknüpfen. Aus den bislang zugänglichen Dokumenten geht nicht hervor, für welche Strukturen die Auflösung eigentlich gelten soll. Dass es gar nichts mehr geben wird, was auf die eine oder andere Weise für die Ziele streitet, für die die PKK stritt, ist äußerst unwahrscheinlich – schon weil eben die Gründe für diesen Kampf nicht beseitigt sind.
Ebenso zweifelhaft ist, dass die Führung der kurdischen Arbeiterpartei alles, was sie derzeit veröffentlicht, auch selber glaubt. Schon das Auflösungskommuniqué hat in dieser Hinsicht eine innere Widersprüchlichkeit: Knapp zwei Absätze vor der These, die kurdische Frage sei heute demokratisch lösbar, steht, man habe den Kongress auf dem selbiges beschlossen wird, nur unter extremen Sicherheitsvorkehrungen abhalten können, weil die kurdischen Berge unter ständigen Bombardements und Angriffen des türkischen Militärs stünden.
In seiner Rede betonte Murat Karayılan, Mitglied des Exekutivkomitees der PKK, dass eine Entwaffnung der Guerilla nur denkbar sei, wenn es einerseits umfassende rechtliche Garantien und andererseits einen Mentalitätswandel in der Türkei gebe: „Es braucht einen echten Wandel. Wenn sie den Krieg fortsetzen wollen, sollen sie wissen: Sie können uns nicht besiegen.“
Allerdings ist derzeit völlig unklar, wie so ein „echter Wandel“ aussehen könnte. Die vergangenen Versuche, einen Friedensprozess einzuleiten, wurden von zwei Konstanten begleitet: Während der türkische Staat ihn jedes Mal durch massive Verhaftungswellen und militärische Angriffe bis hin zum Massenmord sabotierte; zog die Partei ihre Guerilla zurück, hielt Waffenstillstände ein, aber entwaffnete sie nie. Rechtliche Garantien für ehemalige Guerilla-Kämpfer:innen gab es nie, eine Generalamnestie für die tausenden in türkischen Knästen einsitzenden kurdischen Aktivist:innen schon gar nicht.
Die entscheidenden Fragen sind dementsprechend im Moment nicht geklärt: Was passiert mit den Stellungen in den Bergen? Was passiert mit den Waffen? Was passiert mit den Kadern? Es ist äußerst schwer vorstellbar, dass am Ende dieses Prozesses die Gebirge Kurdistans leer sind, die Waffen an den türkischen Staat übergeben wurden und Abdullah Öcalan mit Cemil Bayık in der Altstadt Diyarbakırs unbehelligt Çay trinkt.
Volk ohne Guerilla?
Im besten Fall also ist diese Selbstauflösung ein Versuch, aus einer Patt-Situation auf dem Feld des Militärischen in eine Offensive auf dem Feld des Politischen zu wechseln. Im bewaffneten Kampf war die Situation lange für beide Seiten festgefahren. Die PKK konnte spätestens seit dem Städtekrieg 2016 in der Türkei militärisch nicht mehr wirklich wirkungsvoll handeln. Politisch und in Bezug auf die Mobilisierung der Bevölkerung zeigt Bakur – der Teil Kurdistans auf türkischem Territorium – seit jener Zeit ebenfalls Schwächen. Auch Rojava, die mehr oder weniger selbstverwalteten Gebiete im Norden Syriens, dauerhaft in einem absolut feindlichen Umfeld zu erhalten, stellt keine tragfähige Perspektive dar. Umgekehrt konnte Ankara trotz aller Bemühungen die Gebirgsregionen im irakisch-türkischen Grenzgebiet nicht „säubern“. In den vergangenen Jahren hatte sich die Guerilla in Ausrüstung und Taktik weiterentwickelt. Der Einsatz von Drohnen und erste Ansätze einer Luftabwehr, erschwerten Erdoğans Truppen die Offensive. Ungeachtet der intensiven Bombardierungen durch Ankara hielten sich die Stellungen im Nordirak.
Es herrscht also ein militärisches Patt. Es waren stets Lagen wie diese, in denen die Partei versuchte, das Terrain der Auseinandersetzung zu verlagern.
Erdogans AKP und seine faschistischen Partner von der MHP wiederum versprechen sich von einer Beendigung des bewaffneten Kampfes sowohl innenpolitisch, wie außenpolitisch eine Stärkung. Nach innen geht es einerseits um freie Hand bei der Unterdrückung der restlichen Opposition sowie ein immenses Potential an kurdischen Wählern. Außenpolitisch würde ein etwaiger „Frieden“ mit den Kurden eine deutliche Erleichterung von Ankaras Bestreben, sich als Regionalmacht aufzustellen, bedeuten. Auch ökonomische Aspekte könnten Folgen einer solchen Einigung sein: Geplante Handelsrouten über die Kandil-Berge sind nicht realisierbar, solange die Guerilla dort sitzt; und der Zugriff auf die Ressourcen Syriens wäre für die Türkei zumindest erleichtert.
Während für Erdogan eine solche Einigung sicherlich ein großer Sieg wäre, ist schwerer zu sehen, was dabei für die werktätigen und unterdrückten Bevölkerungsschichten der Türkei herauskommen soll – insbesondere, da es sich bislang um eine sehr einseitige Willensbekundung der PKK handelt und vom türkischen Staat bisher keine Zugeständnisse gemacht wurden.
Die Redner:innen des PKK-Kongresses betonten durchweg, dass mit der Auflösung ihrer Organisation die Hoffnung verbunden ist, es möge zu einer von militärischen Faktoren unbelasteten Selbstorganisierung ihres Volkes kommen. Auch das Abschlusskommuniqué formuliert diese Hoffnung: „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass unser Volk – insbesondere unter der Führung von Frauen und Jugendlichen – in allen Lebensbereichen eigene Strukturen aufbaut, sich auf Grundlage seiner Sprache, Identität und Kultur selbst organisiert, fähig wird, sich gegen Angriffe zu verteidigen und mit dem Geist der Mobilisierung eine kommunale, demokratische Gesellschaft errichtet.“
Würde das funktionieren, wäre das erst einmal keineswegs von Nachteil. Eine starke, geeinte sozialistische Linke in der Türkei, die sich nicht mehr entlang der türkisch-kurdischen Linie spalten ließe und die fähig wäre , ohne Blutvergießen zu gewinnen, wäre doch wünschenswert. Waffen sind Mittel zu einem Zweck. Wenn man ohne sie gewinnen kann, umso besser. Eine Fetischisierung des bewaffneten Kampfes durch diejenigen, die ihn nicht führen müssen, ist jedenfalls keine besonders ernstzunehmende Kritik an diesem Schritt.
Es bleiben aber auch hier sehr große Fragezeichen. Denn zum einen gibt es keinerlei Anlass zu glauben, der türkische Staat würde einem solchen zivilen Aufbau zusehen, ohne ihn zu zerschlagen. Zum anderen war die PKK nie nur eine militärische Macht. Einerseits wäre ohne ihre Kader der Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht kaum spontan passiert. Andererseits war sie gleichsam das Gravitationszentrum aller an Öcalans Ideen orientierten zivilen Strukturen und hat deren Tendenzen in Richtung Opportunismus und vollkommenen Sozialdemokratisierung zumindest limitiert. Eine kurdische Bewegung ohne dieses Zentrum stünde in der Gefahr – wo sie von ihren Feinden nicht direkt zerschlagen wird – in diverse Interessengruppen zu zerfallen, die versuchen, sich ihre jeweiligen Einflusssphären abzustecken.
Die Idee jedenfalls, dass die Auflösung des Kader-Kerns zu einer Verbesserung der Massenmobilisierung führt, war der PKK bisher eher fremd. Im Gegenteil wird man mit Recht argumentieren können, dass in der Weltregion, in der sie versucht, ihre politischen Ziele durchzusetzen, eine nicht-bewaffnete und nicht nach strengen organisatorischen Prinzipien organisierte Kraft „unweigerlich verschwinden“ wird, wie Öcalan einst selbst geschrieben hat. Man kann sich das an zahllosen anderen Versuchen ziviler Aufbauprozesse in der Türkei, in Syrien und im Iran verdeutlichen. Wer sich nicht selbst verteidigen kann, wird in einer Region, die im Zentrum imperialistischer Konflikte steht, vor großen Schwierigkeiten stehen.
Was nun?
Wer sich die Ereignisse von außen ansieht, ist gut beraten, sich mit allzu raschen Schlussfolgerungen zurückzuhalten. Niemand kann derzeit sagen, welcher Umbruch sich im Mittleren Osten in den kommenden Monaten und Jahren vollziehen wird. Die imperialistische Neuordnung der Region ist jedenfalls keineswegs abgeschlossen. Fakt ist, dass es in diesen Auseinandersetzungen an wirkmächtigen progressiven Bündnispartner für die Kurden fehlt. Mit dieser Realität müssen sie umgehen. Ob der aktuelle Schritt dafür tauglich ist, wird die Zeit zeigen.
Gewiss ist jedoch: Selbst mit dem Ende der PKK – in welcher Form es auch eintreten mag – verliert der Kampf um eine sozialistische Gesellschaft, in der die Völker des Mittleren Ostens gemeinsam und frei von imperialistischer Einflussnahme leben können, nicht an Gültigkeit. Er wird, in welcher Gestalt auch immer, fortgesetzt werden müssen – denn die Ursachen, die ihm zugrunde liegen, sind nach wie vor nicht beseitigt.