5 Jahre Hanau: Erinnern heißt Kämpfen

Am 19. Februar 2020 tötete ein Rechtsterrorist in Hanau neun Menschen. Das Gedenken an den Anschlag ist Mahnung und Aufgabe zugleich.

Heute vor fünf Jahren wurden in der hessischen Stadt Hanau Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov von einem Faschisten erschossen. Der Täter, der den Behörden bereits bekannt war, attackierte bewusst migrantische Orte, darunter eine Shisha-Bar, einen Kiosk und die Arena-Bar. Unmittelbar nach dem Anschlag waren sich alle, von CDU bis Grüne, von Springer bis taz einig: Die Mordtat des 42-jährigen Tobias R. müsse eine Zäsur darstellen. Jetzt müsse alles anders werden. Doch hielten die Versprechen?

Fünf Jahre nach Hanau, Deutschland im Jahr 2025: Krieg nach außen, autoritärer Staatsumbau nach innen, CDU und AfD Hand in Hand. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich wenig überraschend zugespitzt. Umso wichtiger ist es, dass der Widerstand gegen diese Zustände und die Solidarität nicht kleinzukriegen sind. Darunter auch die Initiative „19. Februar Hanau”, die anlässlich des fünften Jahrestages in einem Gedenkaufruf resümiert: „Behördenversagen, mangelnde Aufklärung und ausbleibende Konsequenzen zeigen, dass es weitergehen muss“.

Migrantische und antifaschistische Bewegungen haben sich seit 2020 neu formiert. „Es ist eine Errungenschaft, Antirassismus wieder auf die politische Landschaft gesetzt zu haben. Und zwar nicht mit einer Logik der reinen Anerkennung, sondern einer revolutionären, der Veränderung dieses Systems“, bilanziert die Politikwissenschaftlerin und Aktivistin Simin Jawabreh im Gespräch mit Gegenwind.

Jawabreh auf einer Demonstration © Simin Jawabreh

Ein „brauner Faden“ durch die Geschichte der Bundesrepublik

Medial und politisch mag der Eindruck entstehen, rechte Gewalt gäbe es in Deutschland erst wieder seit den 1990ern, den sogenannten Baseballschläger-Jahren. Schon viel früher aber setzte die systematische faschistische Gewalt in der Bundesrepublik ein – auch als Produkt der ausbleibenden Entnazifizierung. Der Rechtsterrorismus ziehe sich wie ein „brauner Faden“ durch die Geschichte der Bundesrepublik, schreibt der Historiker Darius Muschiol in seiner Monographie zu dem Thema.

Nur vier Jahre nach der Befreiung vom Hitler-Faschismus verlautet Kanzler Konrad Adenauer, die Bundesregierung sei entschlossen, „Vergangenes vergangen sein zu lassen“ – und erlässt eine ganze Serie von Straffreiheitsgesetzen. Das erste wird 1949 verabschiedet. Die zu „Demokraten“ gewandelten Nazi-Täter blieben in der BRD ein fester Bestandteil des Staatsapparats: Im Kanzleramt, in der Bundeswehr, in der Industrie, den Geheimdiensten, der Justiz, den Polizeibehörden und diversen Parteien richteten sich die ehemaligen NSDAP-Mitglieder, SS- und Wehrmachtsoffiziere unbehelligt ein.

Bereits unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg formierten sich wieder rechtsterroristische Organisationen, die ihren Mitgliedern militärisches Training ermöglichten und Anschläge vorbereiteten. Im Rahmen der „stay behind“ – Strategie integrierten die Westalliierten ab den 1950ern ehemalige NS-Offiziere und Neonazis in geheime bewaffnete Verbände der NATO, die im Falle eines Angriffs der Sowjetunion hinter den Linien operieren sollten. In Italien führten diese Gruppen Terroranschläge mit zahlreichen Toten aus, um auf die innenpolitischen Verhältnisse Einfluss zu nehmen. In Deutschland wurde die Rolle dieser Strukturen und ihre Verbindungen zu Geheimdiensten beim Oktoberfest-Attentat 1980 mit 13 Toten und 221 Verletzten trotz zahlreicher Indizien nie aufgeklärt.

1980 folgte dann auch der erste seit 1945 polizeilich dokumentierte und gerichtlich nachgewiesene rassistische Mord in West-Deutschland. Am 22. August 1980 wurden Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu in einer Hamburger Geflüchtetenunterkunft von organisierten Rechtsextremist:innen bei einem Brandanschlag ermordet. Seit 1990 verzeichnet eine Statistik des Opferfonds CURA 220 Todesopfer rechtsextremer oder rassistischer Gewalt. Davon sind nur 116 Fälle von der Bundesregierung als rechts motiviert anerkannt. Selbst wenn diese Zahlen eine Alternative zu denen der offiziellen Polizeistatistiken stellen, dürfte auch hier die Dunkelziffer weitaus höher sein.

Die Anschläge von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sind vielen ein Begriff und werden oft als „trauriger Höhepunkt“ rechter Gewalt bezeichnet. Auf sie folgte eine Welle faschistischer Übergriffe, Pogrome und Anschläge auf migrantische Wohnorte und Geschäfte:

  • Eberswalde 1990 – die Attacke von Skinheads auf Amadeu Antonio, der wenige Tage später an seinen Verletzungen verstarb.
  • Mölln 1992 – die Brandanschläge, die Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz ermordeten.
  • Solingen 1993 – der Anschlag, bei dem Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç das Leben genommen wurde.
  • Dessau 2005 – der Mord an Oury Jalloh, der von Justizbeamten in einer Polizeizelle verbrannt wurde.
  • BRD 2011 – die Enttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) und die fortgesetzte Geschichte der Verstrickung staatlicher Stellen in Neonazi-Strukturen.
  • Berlin 2012 – der Mord an Burak Bektaş.
  • Halle 2019 – der Anschlag auf eine Synagoge.

Die Geschichte rechten Terrors hat an all diesen Orten weder angefangen – noch aufgehört.

Auf dem rechten Auge blind

Eine Untersuchung von Forensic Architecture zeigt für Hanau: Der Notausgang der Arena-Bar, durch den sich die Anwesenden erwiesenermaßen hätten retten können, war verschlossen. Zeug:innen gaben an, dass der Notausgang auf polizeiliche Anweisung zugesperrt war, damit die Bar bei Razzien weder betreten noch verlassen werden konnte. Die deutschen Sicherheitsbehörden sind ein verbindender Faktor der meisten Fälle rechter Gewalt.

Zeittafel der rekonstruierten Tatnacht – Ausstellung von Forensic Architecture/Forensis, Initiative 19. Februar Hanau & Initiative in Gedenken an Oury Jalloh © Norbert-Miguletz, Forensic Architecture

Im Juni 2021 wurden Beamte der Spezialeinheiten in Frankfurt wegen rechtsextremer Gruppenchats suspendiert und ihre Einheit aufgelöst. 13 der Polizist:innen waren in der Nacht vom 19. Februar in Hanau im Einsatz. Auch Jawabreh verweist auf den versperrten Notausgang und darauf, dass es die polizeilichen Kriminalisierungen selbst mit dazu führten, dass Menschen ermordet werden konnten.

Und der Linken-Politiker Ferat Koçak, selbst Betroffener eines faschistischen Anschlags auf das Haus seiner Familie, erklärt: „Sowohl in Hanau als auch im Neukölln-Komplex wurden die Machenschaften der Sicherheitsbehörden nicht aufgedeckt“. Rassismus und die Unterstützung rechter Gruppen, so Koçak, finde auch Zuspruch im Sicherheitsapparat, aufgedeckt werde das aber nur unzureichend.

Koçak führt gegenüber Gegenwind aus: „In Mölln oder auch im Fall Burak Bektaş wurde zuallererst in Richtung der eigenen Community ermittelt, nachdem die Ziele als migrantisch ausgemacht wurden“. Aufklärung gab es deshalb keine. Bezeichnend ist auch: Nach dem Anschlag in Hanau hatte nicht der Vater des Täters, der die Entfernung sämtlicher Gedenkstätten und die Zurückgabe von Tatwaffen seines Sohnes forderte, eine Gefährderansprache bekommen – sondern die Überlebenden und Angehörigen der Ermordeten.

In Hanau erkämpften die Familien der Opfer die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses (UA). Dieser tagte von 2021 bis 2023. Die Einschätzung, der zur Aufarbeitung des Hessischen UA gegründeten Initiative zum Abschlussbericht lautet: „Zentrale Versagenspunkte wurden bestätigt, viele offene Fragen blieben unbeantwortet. Niemand hat die politische Verantwortung übernommen. Es gab keine Konsequenzen.“

Auch Koçak und verschiedene Bewegungen haben sieben Jahre für eine Aufarbeitung und Konsequenzen aus dem Neukölln-Komplex gekämpft, um Vertuschungsversuche sowie behördliches Versagen zu beleuchten. Koçaks Fall wäre ohne politische Kämpfe wohl gar nicht vor Gericht gekommen. Die Verurteilung gäbe es ohne antifaschistischen Widerstand und investigativen Journalismus heute nicht, so seine Einschätzung. Genau da liege ein weiteres Problem – dass Betroffene selbst für Aufklärung kämpfen müssen.

So hat auch Armin Kurtović, Vater des ermordeten Hamza Kurtović, vor zwei Wochen Strafanzeige bei der Hessischen Staatsanwaltschaft gestellt. Fünf Jahre später sind es immer noch Angehörige, die eine Ermittlung in Richtung Polizei erkämpfen. Im Nachgang eines von Kurtović in Auftrag gegebenen Gutachtens, gibt es genug Anlass, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und Strafvereitelung zu ermitteln.

Stimmung von Terror und Angst

Hanau nicht als ein isoliertes Ereignis zu verstehen, bedeutet, nach dem gesellschaftlichen Umfeld zu fragen, in dem faschistische Gewalt entsteht. Die Politikwissenschaftlerin Jawabreh sieht dieses etwa in der staatlichen Kriminalisierung migrantischen Lebens. Wenn Shisha-Bars zum Beispiel pauschal zu Orten des Verbrechens erklärt und permanent zum Schauplatz medial begleiteter Großrazzien werden, so ist das ein Signal.

Koçak stößt in dieselbe Kerbe: Das Resultat der öffentlichen Stigmatisierung von Mirgant:innen sei, dass Nazis sich motiviert fühlen, Worte in Taten umzusetzen. „Ich meine, das sind doch die Aussagen von Höcke und seinen Leuten, die gesagt haben, diese migrantischen Läden, die müssten aus dem Stadtbild verschwinden“, so Koçak. Dabei gehe es nicht nur darum, einzelne Leute anzugreifen, sondern auch, „eine Stimmung von Terror zu schaffen, dass Menschen, die von Rassismus betroffen sind, sich nicht mehr sicher und wohl fühlen.“ Koçak kennt dieses Gefühl selbst. „So ein Anschlag, der verändert dein Leben für immer“, sagt er.

Ferat Koçak als Redner auf einer Demonstration. © Stefan Müller

In Neukölln kandidiert Koçak aktuell für die Linke als Direktkandidat zur Bundestagswahl. In diesem Bezirk allein wurden über 22 Millionen Euro Sozialausgaben gestrichen. Und das „während die Polizei hier gleichzeitig mit dem größten Einsatzkommando seit Jahrzehnten an Sylvester auffuhr“, bekräftigt Jawabreh.

Rigoroser Abbau sozialstaatlicher Maßnahmen, Aufrüstung und Kriminalisierung von Migration – diese Gleichzeitigkeit ist kein Zufall. Aktuelle politische Entwicklungen sind nicht die fehlerhaften Abweichungen eines außer Kontrolle geratenen Kapitalismus. Der Zusammenbruch sozialdemokratischer Kompromisse nach dem Zweiten Weltkrieg, der Abbau des „Wohlfahrtsstaats“, Deindustrialisierung und ansteigende Ungleichheit sind typische Entwicklungen für den Neoliberalismus. Das europäische Grenzregime ist dabei ein Versuch, Machtverhältnisse in Krisenzeiten wiederherzustellen. Dabei werden Migrant:innen oft als Ursache für soziale und wirtschaftliche Probleme dargestellt. Grenzen helfen dabei, ungleiche Auswirkungen des globalen Kapitalismus zu steuern, rassistische Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten und von der Ausbeutung der Arbeitskraft von Migrant:innen zu profitieren.

Dazu Jawabreh: „Kapitalismus braucht Ungleichheit und Rassismus als Legitimierung dieser staatlichen Regulierungen“. Staatlicher Rassismus führe zu rechtsextremen Morden. Damit sind diese eben keine Einzelfälle oder Abweichungen. Vielmehr ergeben sie sich aus staatlichem Recht, das nach Herkunft unterscheidet, um Menschen in Produktions- und Abhängigkeitsverhältnisse zu stellen. Insbesondere Migrant:innen seien es, die in Deutschland ohne Arbeitsschutz und Rechte auf den Spargelfeldern ackern, Häuser bauen oder Menschen pflegen.

Gedenken und Widerstand

Vor fünf Jahren, wenige Tage nach dem 19. Februar 2020 wurde in Hessen weiter fröhlich Karneval zelebriert. Politiker:innen gaben sich im Nachgang ergriffen und schockiert. Am 14. Mai 2020 besuchten Angehörige der Getöteten eine Sondersitzung im Hessischen Landtag. Innenminister Peter Beuth (CDU) trug an diesem Tag eine Rede vor, in der er die Betreuung der Opfer lobte und mit keinem Wort auf Fehler der Beamten einging. Nur ein Beispiel für die Ignoranz: Genau derselbe Beuth beförderte Roland Ullmann – als Chef des Polizeipräsidiums Südosthessen hauptverantwortlich für polizeiliche Fehler am und um den 19. Februar 2020 – wenige Monate später zum hessischen Polizeipräsidenten. Es ist aber bei weitem nicht nur die CDU, der in Sachen Hanau-Gedenken Heuchelei vorgeworfen werden kann. Auch linksliberale „Mitteparteien“ wirken heute weiterhin an genau dem Klima mit, das Hanau möglich machte: Wenige Tage nachdem Friedrich Merz begleitet von Protesten die vermeintliche „Brandmauer“ zur AfD niederriss, verkündete Robert Habeck (Grüne) eine „Sicherheitsoffensive“.

Die wenigsten sprechen darüber, „wo die Wurzel des Übels liegt“, sagt Koçak. Ausgespart werde, dass viele Teile der menschenverachtenden Positionen, die man normalerweise der AfD zuschreibt, auch von der sogenannten Mitte umgesetzt werden. Erinnert sei an die GEAS-Reform oder das „Abschieben in großem Stil“ à la Scholz. Einem Aussetzen von Familiennachzug für zwei Jahre hatte bereits 2016 die Koalition aus SPD und CDU zugestimmt. Auch Jawabreh betont, dass es die bürgerlichen Parteien seien, die das Recht auf Asyl proaktiv abschaffen – die AfD verteile dabei lediglich die dazugehörigen Tickets für Abschiebungen. Für Koçak schaffen die Machtverhältnisse der letzten Jahrzehnte „den Nährboden, auf dem die AfD immer stärker wird, aber auch dafür, dass beispielsweise Angriffe auf Schutzsuchende im letzten Jahr wieder angestiegen sind“.

Wohin kann es jetzt gehen im Kampf gegen Rassismus und rechte Gewalt? Da alle bürgerlichen Parteien aktuell Gesetzgebungen festsetzen, durch die Deutschland zunehmend zu einem autoritären Staat wird, liegen für Jawabreh politische Antworten und Kämpfe für Gerechtigkeit außerhalb staatlicher Institutionen – und im Kampf gegen sie. Gerechtigkeit könne es nicht innerhalb eines Systems geben, dass diese Form der Ungleichheit braucht, um sich selbst zu erhalten: „Sozialer Tod durch Armut und Isolation oder physischer Tod liegen für Migrant:innen oft nur eine deutsche Schusswaffe voneinander entfernt“.

Für Koçak ist es das Schmieden größer Allianzen und das Zusammenrücken der gesellschaftlichen Linken. Auch Menschen, die von Rassismus betroffen sind, müssten enger zusammenrücken, um einen antirassistischen Selbstschutz zu schaffen. Aber auch gemeinsame Aktionen und Organisierungen sind notwendig. „Ich glaube, es braucht mehr Migrantifa“, schließt Koçak.

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