„Old but gold“ – eine Reihe zu Klassikern der Weltliteratur
Der Kapitalismus hat vorerst gesiegt und für Verlierer, die das Bessere wollten, ist kein Platz mehr in der Geschichtsschreibung. Was der historische Gegner, die geschlagene Arbeiterbewegung, erschuf, muss mit Schlamm beworfen oder der Vergessenheit anheim gegeben werden.
Für abermillionen Buchseiten der Weltliteratur ist kein Platz mehr in den Onlineshops einer dementen kapitalistischen Moderne. Kein Lehrplan empfiehlt sie der Schülerin, keine schmucken Neuauflagen werden im Weihnachtsgeschäft beworben. Man muss sie sich alle antiquarisch besorgen und selbst entstauben. Das aber lohnt sich.
Die vorliegende Reihe hat so auch nur einen Zweck: Grabt die alten Schmöker aus den Hügelgräbern der Nachlässe, Genoss:innen. Bringt wieder ans Licht, was unsere eigene revolutionäre Tradition hervorgebracht hat, denn es ist schön und gut.
Haben Sie Lust, einen rund 900 Seiten starken Roman über die Zusammenführung einer durch Schicksalsschläge getrennten Familie und den fachlichen Dissens zweier Forstwirtschaftsprofessoren in den 1940er-Jahren zu lesen? Nein? Das dachte ich zunächst auch, aber einmal begonnen, ist es schwer Leonid Maximowitsch Leonows „Der russische Wald“ wieder wegzulegen.
Denn zwar steht im Zentrum des Wälzers tatsächlich der Streit zwischen zwei professionellen Waldhütern, Iwan Wichrow und seinem Gegenspieler Alexander Grazianski. Aber schon der ist alles andere als langweilig. Denn Leonow hat sich für sein Buch wirklich tief in die Realität der russischen und später sowjetischen Forstwirtschaft eingearbeitet und dabei nichts weniger als ein ökologisches Manifest erschaffen, das in seinem Kern auch heute noch aktuell ist.
Wichrow, dem Helden unserer Geschichte, begegnen wir als einen etwas schrulligen, aber dem Sozialismus und seinem Land tief verpflichteten Gelehrten, der seine Lebensaufgabe darin sieht, den Waldreichtum Russlands für kommende Generationen zu erhalten. Grazianski tritt als sein gehässiger Gegner auf, der eine Karriere daraus gemacht hat, Wichrow so wortgewaltig wie inhaltsleer vorzuwerfen, dem sozialistischen Aufbau aus romantischen Gründen das Holzschlagen verbieten zu wollen. Rund um die beiden entspinnt sich eine bis in die Zarenzeit zurückreichende Geschichte aus Verrat und Intrige. Die Story spielt zudem teilweise inmitten des faschistischen Angriffskriegs gegen die Sowjetunion und so erwartet den Leser neben den wunderbaren Beschreibungen verschiedener russischer Wälder auch das ein oder andere Gefecht, in das Wichrows Kinder und Ex-Frau verwickelt werden.
Das neben dem ökologischen vorherrschende Thema ist dabei das des „Neuen Menschen“ – die heroischen Leistungen jener Generation von Sowjetbürgern, die in Friedens- wie in Kriegszeiten über sich hinauswuchsen, um der Menschheit zu dienen. Und das schamvolle Vergehen jener Überreste der alten Welt, die sich von Egoismus, Selbstliebe und Eigennutz nicht zu lösen vermochten.
Ist letzteres nicht untypisch für Werke des sozialistischen Realismus, so ist die Entschiedenheit mit der Leonow in „Der russische Wald“ ökologischen Problemen nachgeht, in der schönen Literatur der Sowjetunion vielleicht einzigartig. Der Autor lässt dabei Wichrow eine Antrittsvorlesung geben, die im Wortlaut in die Erzählung eingefügt wird, mehrere dutzend Seiten lang dauert und sich wie eine eigene wissenschaftliche Arbeit über die Waldnutzung im Wandel der Zeiten liest. Wichrows zentrale Position ist dabei: Es ist keineswegs aus irgendeinem Ästhetizismus abzulehnen, Holz zu nutzen. Gerade für die Industrialisierung eines in den Kinderschuhen gehenden Sozialismus ist es unumgänglich. Und natürlich: Wenn Hitler-Deutschland einfällt, ist es auch geboten, ganze Wälder umzuhauen und zu Panzersperren zu verarbeiten.
Aber: Bei allem Fortschrittsglauben bleibt es ein Imperativ, die Naturgeschenke den kommenden Generationen in gutem Zustand zu überlassen. Der Unterschied des Sozialismus zu allen vorherigen Gesellschaftsordnungen ist dabei, dass er die erste sei, die das nicht nur wolle, sondern auch könne, weil das Volk Eigner seines Landes ist. In einer auf die Maximierung von Profit angelegten Welt, sei Naturschutz unmöglich: „Ein Tier denkt nicht an morgen, die Vernunft des Kapitalisten steckt in seinen Krallen und Zähnen. Er geht und nagt alles ab auf seinem Wege, eines Tages krepiert er in einer Cro-Magnon-Höhle vor Hunger und Kälte und zieht die mit, die das Unglück hatten, ihm zu vertrauen.“
Durch die Revolution sei keineswegs ein Automatismus zur vernünftigeren Vermittlung zwischen Mensch und Natur entstanden, aber durchaus das Potential dazu: „Kurzum“, beschließt Wichrow seine Vorlesung, „ich habe hier versucht, Ihnen die Worte von Marx zu erläutern, dass die ganze Gesellschaft, alle Nationen, alle gleichzeitig existierenden Systeme, dass sie insgesamt nicht Eigentümer der Erde sind, sondern bloß Nutznießer, und als solche haben sie sie der Nachwelt wie umsichtige Familienväter in gutem Zustand zu übergeben. Nur in unserem Land ist es dem Menschen möglich, kein gewissenloser Ausbeuter der Natur und kein schwaches Hälmchen in ihrem Strom zu sein, vielmehr eine gewaltige lenkende Kraft des Weltalls.“ Wichrow macht, das sei nur nebenbei erwähnt, dazu eine Reihe ganz konkreter Vorschläge. Die reichen von der Einrichtung von Holzkombinaten zur Minimierung von nicht genutztem Verschnitt über Wiederaufforstungsstrategien bis hin zur Forderung, den Wald zu einem eigenen Rechtssubjekt zu erheben.
Dass diese interessante Abhandlung zur sowjetischen Ökologie und Forstwirtschaft dennoch ein ganz gut lesbarer und sehr spannender Roman geworden ist, der nur selten ins Spröde kippt, ist eine schriftstellerische Leistung. Weltliteratur vom Schlage eines Gorki oder Scholochow ist es nicht geworden. Aber wer sich für vielschichtig verwobene Intrigen, den Kampf um eine neue sozialistische Moral, bissigen Spott gegen kleinbürgerliche Intellektuelle und vielleicht noch ein wenig Forstwirtschaftslehre interessiert, wird hier fündig.