Als fortschrittliche Bewegung in die Welt gekommen, wird homosexuelles und queeres Leben von verschiedenen Seiten angegriffen. Aus der Vergangenheit der Bewegung lässt sich aber lernen, wie auch heute eine emanzipatorische Art des Lebens und Liebens aussehen kann.
Es gab eine Zeit, in der homosexuelle Handlungen gesetzlich verboten waren. Männer durften schon im Kaiserreich keinen Sex mit anderen Männern haben und keine „erregten Blicke“ austauschen. Im faschistischen Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 wurden circa 50.000 Männer wegen homosexueller Handlungen verurteilt und meistens in Konzentrationslagern bestraft; gelegentlich bestand die „freiwillige“ Möglichkeit einer Kastration, um dem Konzentrationslager zu entgehen.
Mit der Begründung, homosexuelle Männer seien „verweichlicht“ und „weibisch“, wurde ihre Sexualität allgegenwärtig verfolgt und bestraft. Handlungen, die den „Fortbestand des Volkes bedrohten“, wurden innerhalb der SS, Polizei und Wehrmacht sogar mit der Todesstrafe geahndet. Wenngleich die nationalsozialistische Herrschaft endete, blieb der §175 Strafgesetzbuch, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, gleichwohl noch einige Zeit in Kraft.
Der deutsche Bundestag rehabilitierte Homosexuelle im Jahr 2002, aber Homophobie, also der Hass und Ekel gegen alle Geschlechter und Sexualitäten, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, ist weiterhin in unserer Gesellschaft verankert. Zwar erkämpfte die Homosexuellenbewegung ab den 1970ern einige Erfolge und Veränderungen, was aber gleichzeitig mit einem Rückgang von schwuler Kultur und Emanzipation einherging. Warum das nur auf den ersten Blick paradox erscheint, zeigt ein Blick in die Geschichte und Entwicklung der Bewegung.

Eine heterosexuelle Welt
Die US-amerikanische Autorin Susan Sontag hat gesagt, Kultur entstünde, „sooft Sprache, Bewegung, Verhalten oder Gegenstände eine gewisse Abweichung von der direktesten, nützlichsten, unengagiertesten Weise des Ausdrucks und des In-der-Welt-Seins zeigen.“. Wir kennen Kultur als die Freuden des Lebens, die meisten von uns lesen Texte, schauen Filme und hören Musik als Ausflucht aus ihrem Alltag, wenn sie nicht sogar selbst Kultur schaffen. Kultur bewegt und begeistert. Kultur wird konsumiert und gekauft aber allen voran gelebt. Es sind Traditionen, zum Beispiel das Feiern religiöser Feste, das Erzählen bestimmter Geschichten, das Zubereiten von Gerichten oder das gemeinsame Tanzen von Choreographien.
Auch Sexualität, bestimmte Praktiken aber auch die Orientierung selbst, ist Kultur. Auch Sex will nicht immer den direktesten, nützlichsten, unengagiertesten Weg gehen. Weil wir in einer Welt der Heterosexualität leben, in der sich Männer in Frauen und Frauen in Männer verlieben und verlieben sollen, ist wohl auch unsere Kultur weitestgehend heterosexuell. Das Patriarchat und der Faschismus, der bürgerliche Staat und diverse Religionen predigen uns, dass die romantische Liebe nur zwischen Mann und Frau existiert. Sex ist privat und soll nicht in die Öffentlichkeit getragen werden. Die Konsequenz aus dieser Gesellschaft ist Unterdrückung – vor allem für Frauen, ob hetero- oder homosexuell, schwule Männer, trans, inter oder nicht-binäre Menschen.
Aber neben dieser dominierenden Kultur der Heterosexualität, kennt unsere Gesellschaft gleichwohl noch mehr. Einige Männer in dieser Gesellschaft leben ihre Homosexualitätund bezeichnen sich selbst als schwul. Wenngleich diese Männer sich beim Sex mit einem weiteren Penis auseinandersetzen müssen, leben auch sie in einer heteronormativen Welt und lernen zunächst nichts anderes als eine heterosexuelle Kultur kennen. In dieser Umwelt bleibt ihnen der direkte Ausdruck ihrer Homosexualität und insbesondere ihrer schwulen Kultur verwehrt. Das meint auch ebenjene Freiheit, die heterosexuelle Männer und Frauen haben, wenn sie festlegen, dass sie es sind, die normal lebten. Die Freiheit und Frechheit, ihre Sexualität neben allen anderen als Norm, als Natur, als Gottgegebenheit zu markieren und Homosexuelle damit als abnormal, unnatürlich und sündig darzustellen.
Ein homonormatives Pendant
Heterosexuelle Männer schauen Fußball, versaufen Geld und zeigen keine Emotionen. Homosexuelle Männer lieben Drag, Diven-Kult und andere Männer mit langen Fingernägeln, ausgefallenem Make-Up und kurzen Röcken. Heterosexuelle Männer haben Sex mit einigen wenigen Frauen. Das homosexuelle Pendant besucht angeblich hemmungslose Sex-Partys, infiziert sich mit AIDS und verliert sich einmal wöchentlich im Drogenrausch.
Soweit die Vorurteile und ersten Assoziationen zu Sexualität und Geschlecht. Mit Ausnahme der AIDS-Infektion – ein Stigma, auf das es noch einzugehen gilt – könnten die aufgezählten Vorlieben und Verhaltensweisen durchaus Teil schwuler Kultur sein. Aber irgendwie besuchen im Jahr 2025 trotzdem nur noch die wenigsten Männer Drag-Shows, Schwulen-Bars sterben aus, und das äußere Erscheinungsbild eines schwulen Mannes kommt dem von Heterosexuellen immer näher. So ist auffällig, dass viele ein Bild von sich zeichnen, bei dem der einzige Unterschied zwischen ihnen selbst und heterosexuellen Männern derjenige sei, dass sie statt Frauen nun mal Männer liebten. Ansonsten seien sie doch genauso wie ihre heterosexuellen Freunde. Ihr gesamtes Leben, jedes Verhalten und jede Kultur ist völlig gleich zu demjenigen heterosexueller Menschen. Die stets verurteilte Heteronormativität verschiebt sich zur Homonormativität und zwingt schwule Männer in ebenjene Normen, die Queernes, eine Alternative zur heterosexuellen Kleinfamilie, ursprünglich durchbrechen wollte.
Diese Männer wollen sich zunehmend an die Heteronormativität anpassen, anstatt sich auf Errungenschaften und kulturelle Unterschiede zurückzubesinnen. Kulturelle Unterschiede, aus denen heraus Emanzipation entstehen kann. Vor allem bei jungen schwulen Männern lässt sich die Entwicklung beobachten, dass sie ihre kulturelle Zugehörigkeit mehr bei weiblichen Ikonen, vornehmlich Models, Hollywoodstars oder gar Politiker:innen und attraktiven Männern aus dem Sport, Film oder Fernsehen finden. Insbesondere das soeben beschriebene Phänomen der Homonormativität nimmt heterosexuell geprägte Geschlechterrollen auf und drängt manche schwule Männer in die Rolle der Frau und andere in diejenige des „echten Mannes“.
Der Rückgang schwuler Kultur
Der Rückgang schwuler Kultur hat ökonomische Ursachen und ist nicht durch die wachsende Akzeptanz von Homosexualität ausgelöst worden. Die Gentrifizierung von Metropolregionen, die HIV-/AIDS-Epidemie und die Erfindung des Internets sind die prägendsten Umstrukturierungen der Welt, die schwule Kultur in ihrer Entwicklung verändert hat.

Mit Blick auf San Francisco, Los Angeles, Berlin oder Paris der 1970er lässt sich rekonstruieren, dass viele schwule Männer in Metropolregionen gezogen sind und sogenannte Schwulenghettos gegründet haben. Im Zuge der Bewegung dieser Jahre haben sie in ihren Stadtvierteln eine eigene Infrastruktur, d.h. Kneipen, Cafés, Saunen, Presse und andere explizit homosexuelle Einrichtungen geschaffen, in denen eine aufblühende Szene entstehen konnte. Gemeinsame Reflexionen, Bewusstwerdung und Selbstbestimmung, neue Lebensformen und Reproduktion außerhalb von Heteronormativität wurden gelebt und stets hinterfragt. So waren die wenigsten Bewohner:innen dieser Schwulenghettos Akademiker:innen, sondern in der Regel proletarisch, weil die Mieten in besagten Stadtvierteln noch niedrig waren. Für das Ausleben der Homosexualität musste am öffentlichen gesellschaftlichen Leben teilgenommen werden, da das Internet noch in weiter Zukunft lag. Es galt, sich mit vielen schwulen Männern konkret auseinanderzusetzen und sich nicht im Internet auf einen bestimmten Typus festzulegen. Das Publikum, dessen Auftreten, Geschlechterrollen, Ethnien und Klassenzugehörigkeiten, musste genommen werden, wie es nun mal kam. Schwul sein hieß die Konfrontation und Akzeptanz mit jeglichem Verständnis, dass die heteronormativen Grundsätze aufbrach.
Passiert ist dann folgendes: Der Kapitalismus hat Großstädte neu konzipiert, Outlet-Center, Schnellstraßen und Tagungszentren errichtet und die Mieten sind explodiert. Die AIDS-Epidemie und die damit einhergehende stigmatisierende Politik hat allein in den USA mehr als 300.000 schwulen Männern das Leben gekostet und den Kampf gegen die oben beschriebene Gentrifizierung in diesen Gegenden erheblich geschwächt -weil seine Kämpfer schlicht gestorben sind. Männer, denen die Häuser und Wohnungen oftmals nicht gehörten, konnten sich die gestiegenen Mieten nicht mehr leisten, wurden verdrängt und lebten vereinzelt. Wohlhabende Menschen zogen in die Wohnungen der AIDS-Toten und Vertriebenen. Der Einfluss der Bewegung sank auch politisch und medial. Durch das Internet, allen voran Online-Dating, gab es kaum noch eine persönliche Auseinandersetzung mit diversen Ausprägungen schwulen und queeren Lebens. Die Zahl der Szene-Bars, Buchläden, Cafés oder Saunen nimmt auch heute stetig weiter ab.
Inspiration und Identitätsbildung
Nun ist die Entwicklung schwuler Online-Kultur durch TikTok, Instagram, oder Grindr nicht grundsätzlich zu bedauern. Identitätsbildung und Zusammengehörigkeit kann zu einem gewissen Grad durchaus auch online stattfinden. Individuell hat sich der Möglichkeitsrahmen der Selbstentfaltung durchaus erweitert. Ein großes Angebot im Internet ermöglicht eine weitgehende Inspiration durch diverse Auslegungen von Schwulsein. Im Übrigen kann das Internet auch einen über die individuelle Ebene hinausgehenden Zweck erfüllen. So können durch Social Media Inhalte aus aller Welt konsumiert werden, sodass sich die Geschwindigkeit der Emanzipation global beschleunigen kann.In vielen Ländern konnte sich queeres Leben freier entfalten, gerade weil durch eine große mediale Reichweite wirksame Skandalisierungen der Zustände ermöglicht wurden.
Und dennoch: Vor dem Hintergrund, dass die Schwulenbewegung der zurückliegenden Jahrzehnte allen voran ein Befreiungskampf war, ist kritisch zu fragen, ob die Verschiebung der beschriebenen Kultur in die digitale Welt nicht dazu führt, dass sich insbesondere queere Menschen in ihrer Sexualität vereinzeln und eben nicht gemeinsam organisieren. Die Möglichkeiten der Inspiration und des Ausdrucks haben sich erweitert, queere Kämpfe haben weltweit mehr Sichtbarkeit bekommen, ja. Gleichwohl: Im Sinne einer tatsächlichen Emanzipation ist das einzig wirklich Kraftvolle der physische und persönliche Zusammenschluss von Menschen.
Schwule Kultur als antipatriarchale Alternative
Was ist dann also noch, vielleicht aber auch wieder, schwule Kultur? Welcher indirekte, unnütze, unengagierte Weg ist derjenige der Homosexualität? Wenngleich diese eine, explizite und einzige Antwort natürlich, wie immer, nicht existiert, lässt sich wohl durchaus folgendes benennen: Schwule und queere Kultur hat auch in 2025 den Anspruch, eine antipatriarchale, weil nicht mehr heteronormative Alternative zu bieten: Gewaltfreiheit in der Kommunikation und dem Miteinander, Toleranz gegenüber jedem Verständnis von Schwulsein. Es ist die Abgrenzung zur Heteronormativität, weil sie keinem Mann das Gefühl geben soll, zu schwul zu sein. Weil sie sich stets in Selbstreflexion übt. Und schwule Kultur ist das Gemeinsame. Sie meint nicht nur Einfühlsamkeit und Zärtlichkeit im Umgang mit einzelnen Menschen, sondern auch eine großflächige Organisierung der Unterdrückten allgemein. Sie steht auf gegen die Entfremdung im Kapitalismus und will uns zu einem Kollektiv zurückführen. Homosexualität bedeutet das Streben nach Gemeinschaft.