Old but gold (Folge II): „Ein Weg dem geflügelten Eros!“

Die zweite Folge der Reihe befasst sich mit Alexandra Kollontai (1872-1952) und ihrem vierten Brief an die arbeitende Jugend über die Liebe:
„Ein Weg dem geflügelten Eros!”

Sie zieht sich durch die Popkultur wie ein durchkapitalisierter rosa Faden: Die Liebe. Wenn gleich die herrschende Klasse sie zu einem ideologischen Kampfinstrument gemacht hat, so ist die Liebe auch „eine seelische Emotion (ein Gefühl) verbindenden und folglich organisierenden Charakters“. Aber wie ist es mit der Liebe zu halten? Diese Frage hat sich auch die Kommunistin Alexandra Kollontai gestellt – und sie hat Antworten für uns: eine proletarische Ideologie der Liebe. In „Ein Weg dem geflügelten Eros!“ (1923) beschreibt sie das „Rätsel der Liebe“ als so alt wie die menschliche Gesellschaft selbst. Die Schlüssel des Rätsels Lösung hingen dabei immer von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen ab.

Autorin und Propagandistin der Arbeiterbewegung

Alexandra Kollontai wird 1872 in Sankt Petersburg als Tochter einer finnischen Mutter und eines adeligen Generals geboren. Entscheidend für ihren politischen Werdegang ist ein Besuch in der Krähnholm Manufaktur für Baumwollfabrikate: unter Eindruck der Ausbeutungsverhältnisse ist der Entschluss, Teil der revolutionären Arbeiterbewegung zu werden, schnell gefasst. Nach ihrem Studium der politischen Ökonomie in Zürich tritt sie 1899 mit Mitte 20 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bei, arbeitet als Autorin und Propagandistin. Aufgrund der politischen Verhältnisse im zaristischen Russland emigriert sie 1908 nach Deutschland. Dort nimmt Kollontai auch an der ersten, von Clara Zetkin, initiierten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz als russische Delegierte teil.

Portrait von Alexandra Kollontai

Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist also schon früh prägender Dreh- und Angelpunkt für Kollontai. Sie streitet innerhalb der kommunistischen Bewegung für die Beachtung der Geschlechterfrage und führt diese Kämpfe – wie beispielsweise ihre deutschen Genossinnen auch – immer in Abgrenzung zur bürgerlichen Frauenbewegung.

Nach der Oktoberrevolution 1917 kehrt Kollontai aus ihrem langen politischen Exil zurück und wird im Alter von 45 Jahren die erste Ministerin weltweit – als Volkskommissarin für soziale Fürsorge. Unter ihrer Führung werden beispielsweise das Ehe- und Abtreibungsrecht liberalisiert sowie kollektive Konzepte von Volksküche und Kinderbetreuung entwickelt. In ihrer Autobiografie schreibt Kollontai auch über die Rolle, die die Liebe in ihrem Leben bis 1926 gespielt hatte. Vernichtend ist das Urteil: so war sie eine Verausgabung, letztlich völlig wertlos, eine Vergeudung. Um dieses Urteil zu verstehen, werfen wir nun einen Blick auf ihr Verständnis von Liebe im Sinne einer proletarischen Ideologie.

Auch die Liebe hat eine Geschichte

Wir beginnen von vorne: Was ist die Liebe überhaupt? Zuallererst ein viel zu allgemeines und deshalb ungenaues Wort, was die unterschiedlichsten Schattierungen von Empfindungen nicht fassen kann. Aber Kollontai bietet glücklicherweise auch eine Deutung an, es ist schließlich kompliziert genug:

„Liebe ist ein Konglomerat, eine komplizierte Verbindung von Freundschaft, Leidenschaft, mütterlicher Zärtlichkeit, Verliebtheit, Harmonie des Geistes, Mitleid, Hochachtung, Gewohnheiten und vielen, vielen anderen Schattierungen von Gefühlen und Erlebnissen.“

Es sei an der Zeit anzuerkennen, dass Liebe nicht nur biologische Kraft, sondern auch sozialer Faktor ist. Dabei hat die Liebe auf allen Stufen der menschlichen Entwicklung in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen existiert. Stets stellte sie einen wesentlichen Bestandteil der geistigen Kultur jeder Gesellschaft dar.

Deshalb zeichnet Kollontai nach, wie Liebe historisch reguliert und moralisch bewertet wurde: Während in der vorstaatlichen Gesellschaft die Liebe als verwandtschaftliche Verbundenheit erscheint, betont die Antike sie als freundschaftlich, im Feudalismus wird sie als von der Ehe abgespaltene geistige Verliebtheit des Ritters idealisiert und in der bürgerlichen Moral schließlich gilt die Liebe nur dem verheirateten Ehepaar.

Liebe und Besitz verschmelzen im Kapitalismus

Wir sehen, die Regulierung und das vorherrschende Verständnis von Liebe ist keineswegs ein naturgegebenes Produkt. Die Vielschichtigkeit und die umfassenden Ausformungen von Liebe lassen sich nicht immer miteinander vereinbaren und bringen dabei ständig Widersprüche hervor. Unter kapitalistischer Gesellschaftsordnung werden diese verschiedenen Facetten der Liebe bekämpft.

Die bürgerliche Moral verklärt auch heute noch verheiratete Paare, die auf den Wohlstand ihrer Kernfamilie hinarbeiten, zum Idealbild romantischer Liebe. Diese ideologische Zweckorientierung erklärt die unweigerliche Verschmelzung von Liebe und Besitz. Sie besteht darauf, dass Liebe das Recht auf den absoluten und unteilbaren Besitz der geliebten Person erteilt. Doch die Liebe setzt sich immer wieder über den Versuch ihrer Regulierung hinweg und befreit sich von den auferlegten Fesseln, schreibt Kollontai:

„Die Liebe überschritt ständig die Grenzen, in die sie die enge Bahn der juristisch sanktionierten ehelichen Beziehungen lenkte. Entweder nahm sie die Gestalt einer freien Verbindung an, oder es kam zu dem moralisch verurteilten, aber doch häufig praktizierten Ehebruch.“

Zart geflügelter und ungeflügelter Eros: zwei Erscheinungsformen der Liebe

Liebe erscheint also, damals wie heute, in unterschiedlichen Ausdrücken, es gibt nicht die eine, einzig gültige Liebe. Kollontai beschreibt den Umgang der bürgerlichen Moral mit dieser Vielseitigkeit so:

„Die heuchlerische Moral der bürgerlichen Kultur hat aus den bunten, vielfarbigen Flügeln des Eros schonungslos Federn gerissen, indem sie ihn verpflichtete, nur das verheiratete Ehepaar aufzusuchen. Außerhalb der Ehe räumte die bürgerliche Ideologie nur dem gerupften, ungeflügelten Eros einen Platz ein […]“.

Der „ungeflügelte Eros“ – der nackte Instinkt der Reproduktion – „[…] bringt keine schlaflosen Nächte, macht den Willen nicht weich, beeinträchtigt die kühle Verstandesarbeit nicht.“ Er widerspricht aber den Interessen der Arbeiterklasse, betont Kollontai. So ziehe er körperliche Erschöpfung, seelische Verödung mit sich, unterbinde Beziehungen und die Empfindung gegenseitiger Sympathie. Auch beruhe er auf fehlender Gleichberechtigung in den Beziehungen zwischen Mann und Frau.

Der „zart geflügelte Eros“ hingegen ist gewebt aus einem feinen Netz aller möglichen geistigen und seelischen Empfindungen. Beflügelt erscheint die Liebe bei einer Verschmelzung von physischer Anziehung und emotionaler Wärme. Jedoch hatte diese, so Kollontais historische Einordnung, keinen Platz in den Phasen revolutionärer Umbrüche, in denen der Kampf ums Überleben die Gefühlswelt bestimmte und der reine Reproduktionsinstinkt überwog. Kollontai widmet sich dem zart geflügelten Eros mit Blick auf die Zeit nach dem Ende des russischen Bürgerkriegs, in der die Verhältnisse nun eine veränderte Moral, und damit andere Ausdrücke der Liebe, erlauben:

„Zusammen mit dem Sieg des kommunistischen Prinzips und der kommunistischen Ideale im Bereich von Politik und Ökonomie muss sich ganz zwangsläufig auch eine Revolution in der Weltanschauung, in den Gefühlen, in der Seelenstruktur der arbeitenden Menschen vollziehen. Schon jetzt macht sich eine neue Beziehung zum Leben, zur Gesellschaft, zur Arbeit, zur Kunst und zu den ,Lebensregeln‘ (d.h. zur Moral) bemerkbar. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern gehen als ein fester Bestandteil in die Lebensregeln ein.“

Eine proletarische Ideologie – Liebe als Genoss:innenschaft

Jede Epoche hat ein eigenes Liebesideal, jede Klasse ist bemüht, dem Begriff der Liebe im eigenen Interesse einen Inhalt zu geben. Deshalb entwirft Kollontai für ihren historischen Kontext einer sich befreienden Gesellschaft eine proletarische Ideologie der Liebe – als „Kameradschaft“. Heute würden wir vielleicht Genoss:innenschaft sagen:

„Die Anerkennung der beiderseitigen Rechte und das Vermögen, sogar in der Liebe auf die Persönlichkeit des anderen Rücksicht zu nehmen, verläßliche gegenseitige Unterstützung, feinfühlige Anteilnahme und aufmerksame Aufgeschlossenheit für die Bedürfnisse des anderen, Gemeinsamkeit der Interessen und Ziele — das ist das Ideal der Liebe als Kameradschaft, das die proletarische Ideologie als Ersatz für das überlebte Ideal der ‚alles vereinnahmenden‘ und ,ausschließlichen‘ ehelichen Liebe in der bürgerlichen Kultur proklamiert.“

Besonders die Solidarität spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Nicht nur im Sinne eines Bewusstseins gemeinsamer Interessen, sondern auch als geistig-seelischer Zusammenhalt. Eine kommunistische Gesellschaft nach dem Prinzip der Kameradschaft und Solidarität erfordere insbesondere ein „hochentwickeltes Liebespotential“:

„[…] all diese ‚Empfindungen gegenseitiger Sympathie‘ – Sensibilität, Mitgefühl, Verständnis – entspringen einer gemeinsamen Quelle: der Fähigkeit zu lieben, Lieben nicht im engen geschlechtlichen, sondern im weiten Sinne dieses Wortes.“

Auf zu neuen Federn

Nun ist es an uns, bunte Federn auf die Flügel des Eros zu setzen. Eine Kultur widerständiger, gegenseitiger Rücksicht, Fürsorge und Empfindsamkeit zu erkämpfen und sie aus patriarchalen Logiken zu lösen. Kollontai beweist, dass auch der vermeintlich intimste, privateste Aspekt unseres Lebens politischer Natur ist. Das heißt deshalb auch, sich gegen eine Aneignung durch den bürgerlichen Feminismus zu wehren, der Kollontai als Frauenrechtlerin feiert, als Kommunistin begräbt. Denn Kollontais Überlegungen sind den neuen Verhältnissen einer Gesellschaft gewidmet, die sich von der kapitalistischen Herrschaft befreite:

„Es ist klar, daß die Ideologie der aufstrebenden Klasse an der Stelle der fehlenden Federn auf den Flügeln des Eros neue Federn von noch nicht dagewesener Schönheit und strahlender Kraft wachsen lassen kann. Vergessen Sie nicht, mein junger Freund, daß sich die Liebe unaufhörlich verändert und umgestaltet, zusammen mit der Veränderung der kulturellen und wirtschaftlichen Basis der Menschheit.“

„Ein Weg dem gefllügelten Eros!“ führt uns also vor Augen, dass die Ausdrucksformen der Liebe zuallererst Ergebnis der jeweiligen Gesellschaftsordnung sind. Aber, wir sind diesen eben auch nicht willenlos ausgeliefert. In den Nischen der heutigen Welt schlummert auch immer das Potential einer anderen, befreiten Welt. Kollontais Figur der Liebe als Genoss:innenschaft kann uns als wegweisend dafür dienen, wie wir uns zueinander in Beziehung setzen wollen – und lässt uns dabei gleichzeitig nicht vergessen, dass der Weg in eine befreite Gesellschaft erkämpft werden muss. Genoss:innenschaft stärkt uns dabei schon jetzt in unseren gemeinsamen Kämpfen, sie gibt uns Kraft, Mut und Zuversicht. Doch erst mit Überwindung der herrschenden Verhältnisse können wir uns schließlich den bunten Federn eines neuen Eros sicher sein.

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