Am 28. Februar 2025 wurde in Griechenland ein Generalstreik ausgerufen. Hunderttausende beteiligten sich an Massendemonstrationen, die in Straßenschlachten endeten.
Zwei Jahre zuvor, am 28. Februar 2023, starben 57 Menschen als ein Güterzug, beladen mit illegalen entflammbaren Stoffen, frontal mit einem Passagierzug kollidierte. Vor allem junge Student:innen waren unter den Opfern, die gerade aus den Semesterferien zurück fuhren. Direkt danach bemühte sich die Regierung unter der rechts-konservativen Nea Dimokratia, die Hinweise auf die illegalen Stoffe zu beseitigen und ließ die Beweise vernichten, noch bevor alle Opfer identifiziert werden konnten. Damit es bloß nicht so erscheint, als gebe es ein systematisches Versagen, verhaftete man den Fahrdienstleiter, der einen Monat nach Abschluss seiner Ausbildung die Züge auf das selbe Gleis lies.
Seit zwei Jahren übernimmt die Regierung keine Verantwortung für die Kollision, vertuscht und behindert konstant die Aufklärung. Die Angehörigen der Opfer kämpfen bis heute noch für eine Klärung der Ursachen, sowie rechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik. Das Sicherheitsrisiko dieses sehr veralteten Bahnsystems wird schon lange angeprangert. Trotz Versprechungen hat die Regierung daran nichts geändert, sondern den maroden Zustand beibehalten. Die Privatisierung der staatlichen Bahn unter der sozialdemokratischen Syriza Regierung ist dabei für viele die Ursache dieses Unglücks. Zugleich ist sie aber auch nur die Spitze des Eisbergs des griechischen Normalzustandes von Vertuschung, Korruption und Privatisierung.
Diesen Januar sind Tonaufnahmen der Notrufe von zahlreichen Personen, kurz nach der Kollision, an die Öffentlichkeit gekommen. Dabei hört man, wie Insassen langsam verbrennen und ersticken. Die letzten Worte einer Passagierin – „Ich habe keinen Sauerstoff” – wurden zum Slogan zahlreicher Proteste und Streiks, so auch beim aktuellen Generalstreik letzte Woche.
Wir waren im Vorhinein in Athen, um einen Eindruck von der sozialen Bewegung und ihren Hintergründen zu bekommen. Vor Ort haben wir Alexandra* interviewt von der Gruppe Πρωτοβουλία για την ταξική και πολιτική ανασυγκρότηση („Initiative für Klassen- und politischen Wiederaufbau”).

GW: Wie haben die Menschen auf die Ereignisse in Tempi vor zwei Jahren reagiert?
Alexandra: Zunächst einmal müssen wir die unterschiedliche Sprache verstehen, die zur Beschreibung des so genannten „Ereignisses“ verwendet wird: Der Staat nennt es einen Unfall, wir nennen es Mord und ein Verbrechen. In diesem Sinne waren die Jugendlichen, die Arbeiter:innen, die einfachen Leute, die Aktivist:innen, alle sehr wütend und reagierten entsprechend. Die Menschen verstanden sofort, dass das passiert ist, weil der Staat den öffentlichen Sektor immer mehr vernachlässigt und dann privatisiert hat.
Deshalb gab es sofort Demonstrationen gegen die Zentrale von Hellenic Train (HT), die in den nächsten Tagen mehrfach angegriffen wurde. Die Student:innen besetzten ihre Universitäten, und nach ein paar Tagen riefen Arbeiter:innen einen Generalstreik aus. In den wenigen Tagen, zwischen dem Verbrechen und der ersten Demonstration vor dem HT-Hauptquartier sowie dem ersten Generalstreik, gab es mehrere Angriffe auf die Polizei. Der Generalstreik war einer der größten seit Jahrzehnten, und es fanden einige der heftigsten Auseinandersetzungen mit der Polizei seit langem statt.

GW: Warum ist Tempi noch so relevant und löst heute, zwei Jahre danach, solche massiven Proteste aus?
Alexandra: Es gibt eine doppelte Linie, die Tempi und andere große Probleme in Griechenland miteinander verbindet und sie daher bis heute relevant macht. Auf der einen Seite ist es die Strategie, die der Staat und das Kapital anwenden, um ihre Verbrechen zu vertuschen. Das war in Griechenland schon immer so, es ist Teil des Gesellschaftsvertrags nach dem Sturz der Junta (die Militärdiktatur in Griechenland von 1967 bis 1974 ; A.d.R). Der Staat und das Kapital werden niemals zulassen, dass die Gerechtigkeit siegt, wenn einer der Ihren auf der Anklagebank sitzt. In den letzten Jahren haben sie bereits einige Skandale unter den Teppich gekehrt: Die umfassenden illegalen Telefonabhörungen, in die das Büro des Premierministers verstrickt war. Oder den riesigen Menschenhändlerring, der die griechische Mafia mit wichtigen Personen im Staatsapparat verband. Viele Morde an Migrant:innen, aufgrund von Push-Backs an den EU-Außengrenzen, einschließlich eines Schiffbruchs mit 600 Toten – die Liste ließe sich endlos fortführen. Sie halten sich nicht an die Gesetze, die sie selbst erlassen haben.
Auf der anderen Seite ist da die Privatisierung. Die Stromversorgung ist nicht mehr staatlich, was dazu führt, dass Tausende ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können. Das Gesundheitssystem wird privatisiert, was zur Folge hat, dass es nicht mehr in der Lage ist, die Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu erfüllen. Auch das Bildungssystem wird privatisiert, was für all jene, die ihre Studiengebühren nicht mehr bezahlen können, katastrophale Folgen haben wird. Genau das ist auch mit der staatlichen Eisenbahngesellschaft geschehen, die an Trenitalia verkauft wurde. Durch die Privatisierung werden öffentliche Güter zu Waren auf dem Markt. Und dann geht es nur noch um Profitmaximierung, nicht darum den Menschen zu helfen.
GW: Was sind die Gründe für den Generalstreik am 25. Februar?
Alexandra: Neben dem Tempi-Verbrechen ist die wirtschaftliche Situation in Griechenland sehr entmutigend. Die Löhne sind immer noch so niedrig wie in den 2010er Jahren, obwohl sich die Inflation mehr als verdoppelt hat. Die Arbeitsbedingungen gehören zu den schlechtesten in der westlichen Welt. Sowohl Griech:innen, als auch Migrant:innen arbeiten weit mehr als acht Stunden am Tag und oft sechs- oder siebenmal pro Woche, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Ein weiteres Problem sind die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze und die Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Partei Nea Dimokratia. Auch das Wohnungsproblem ist in Griechenland sehr groß, überall gibt es Airbnbs, die die Mieten in die Höhe treiben, während die Häuser von verschuldeten Menschen massenhaft von Immobilienfonds versteigert werden. Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sind für die gesamte Arbeiterklasse in Griechenland sehr hart. In Verbindung mit der bereits angesprochenen politischen Situation ist die Gesamtsituation deshalb auch reif für weitere Streiks und Aktionen.
GW: Was erwartet ihr von den laufenden Protesten gegen Tempi?
Alexandra: Viele Sozialdemokrat:innen, die so genannten „Linken“, haben als einzige Forderung den Sturz der Regierung. Das bedeutet, dass sie nur diese bestimmte Partei und den aktuellen Premierminister für das Geschehene verantwortlich machen. Ihre Sichtweise hat viele Fehler, vor allem erkennen sie die Rolle des Kapitals, das eng mit dem Staat verflochten ist, nicht an. Sie glauben, dass eine andere Partei in der gleichen kapitalistischen Welt besser regieren kann, was sich in der Geschichte als eine falsche Hoffnung herausgestellt hat. Wir verstehen, dass der Sturz einer Regierung das ist, worauf eine Bewegung ohne ein klares Ziel und ohne zentrale Instanz, die sie leitet, hoffen kann.

Dennoch glauben wir, dass eine so große Bewegung für uns eine Gelegenheit ist, außerhalb unserer eigenen links-anarchistischen Blase zu arbeiten, von den Arbeiter:innen zu lernen, die darum kämpfen, ihre Miete zu bezahlen und Angst vor jedem Morgen haben. Wir versuchen auch, die Streikenden zu politisieren und ihnen zu sagen, dass es nicht nur um den Premierminister oder Tempi geht, sondern um das ganze System von Ausbeutung und Herrschaft. Unser Hauptziel besteht also darin, unsere Positionen konkret zum Eisenbahnsystem und gleichzeitig zum Kapitalismus im Allgemeinen zu vermitteln.
Um ehrlich zu sein, hoffen wir insgesamt auf einen Hauch von frischem Wind gegen die Katastrophe, die seit 15 Jahren in Griechenland wütet. Die aktuelle Bewegung hat nicht das Potenzial, eine neue Welt zu erkämpfen, aber wir müssen natürlich trotzdem alles geben, um das Beste aus diesen turbulenten Zeiten zu machen.
GW: Welche Rolle spielen Jugendliche und junge Menschen innerhalb der aktuellen politischen Entwicklung in Griechenland?
Alexandra: Sie sind nicht mehr so organisiert, wie sie es früher waren. Früher waren die Studentenräte riesig und die Jugend war viel politischer. Heutzutage wird der ideologische Krieg vom Staat und vom Kapital dominiert, und die aktuelle Kultur ist eine, in der es darum geht, sich allein an die Spitze zu drängeln. Daher sind die meisten Jugendlichen nicht mehr so sehr an Politik interessiert wie früher. Sie sehen sich auch nicht in den Gewerkschaften, weil sie träumen, den Arbeitsplatz zu wechseln, bis sie „den perfekten“ Job gefunden haben.
Aber diese Träume zerschellen, wenn die Realität an die Tür klopft. Deshalb stehen trotz alledem immer noch viele Jugendliche, ähnlich zum Aufstand von Nea Smirni im Jahr 2021, an vorderster Front des Kampfes. Die Studentenräte, die von antikapitalistischen Kräften dominiert werden, tun ihr Bestes, und sie haben auch einiges erreicht. Aber letztendlich wird die revolutionäre Zukunft ja auch nicht von der Jugend alleine erkämpft, sondern von der ganzen Arbeiterklasse.
*Der Name wurde von der Redaktion zum Schutz der Person verändert, der richtige Name liegt uns vor.