Mit der Notbremse aus der ökologischen Katastrophe?

Blick aus dem Führerstand einer Lokomotive.

So weiter oder andere Wege gehen – philosophische Gedanken zu Benjamin, Marx und der Rolle der Revolution

„Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.”

– Walter Benjamin

Dieser Pessimismus des schwermütigen Walter Benjamin – man könnte ihm mit einem einfachen Vorwurf der Fortschrittsfeindlichkeit begegnen und ihn abtun. Die Geschichte ist nun einmal Fortschritt, die Revolutionen sind die Entwicklungssprünge darin, im letzten Schritt bietet dieser Fortschritt das Potential, die Menschheit in der vollumfänglichen und letzten Revolution zu befreien – es muss voran gehen. Komm klar damit, Walter. Doch damit würde man es sich zu leicht machen. Denn es steckt tatsächlich etwas in diesem Gedanken, das es lohnt zu betrachten.

Was Benjamins Randnotiz so beachtenswert macht, ist nichts anderes als die Wirklichkeit der heutigen Zeit selbst: Die Verheerung, die durch immer neue Kriege und Krisen über uns herzieht und vielmehr noch die ökologische Katastrophe, die uns immer energischer an die Gurgel geht. Schreit all das nicht nach einem Ende? Was hat es denn nun zu tun, das im Zug der Geschichte reisende Menschengeschlecht?

Der erste Impuls der Erwiderung auf Benjamin hat seine Berechtigung. Tatsächlich waren alle bisherigen großen Revolutionen kraftstrotzende Entwicklungstreiber. Der Fortschritt beispielsweise, den die Industrialisierung des frühen Kapitalismus gebracht hat, hat kaum begreifliche Kräfte der Produktion freigesetzt. Diese bürgerliche Revolution hat dabei auch einen Fortschritt gesellschaftlicher Freiheiten gebracht, der selbst mit zugehaltenen Augen nicht zu übersehen ist.

Fortschritt kann so aber nicht zu einem Wort werden, das einfach mit „gut“ zu übersetzen ist. Denn solange es eine Geschichte der Klassengesellschaften ist, wird für jeden Meter, den der Zug fährt, ein Ticket gelöst, das mit dem Schweiß und Blut der Ausgebeuteten und Geknechteten teuer eingekauft wird. Auch ist die Freiheit des Kapitalismus letzten Endes die, sich frei entscheiden zu dürfen, von wem man sich ausbeuten lässt.

Auf diesem zweiten Feld wird die volle gesellschaftliche Freiheit erst eine Möglichkeit nach der letzten, der sozialistischen Revolution. An manchen Stellen hält Marx fest, dass hier erst die Geschichte der Menschengesellschaft beginnt, weil sie erst hier wirklich frei über ihren Weg entscheiden kann und erst hier auch die individuelle Freiheit abseits der Zwangsknechtschaft verwirklichen kann. Erst hier ist der Mensch überhaupt wirklich Mensch geworden, der seine Geschichte selbst bestimmen kann. Und erst hier ist die Menschheit in der Lage, ihr Verhältnis zur Natur bewusst und nachhaltig zu regeln. Denn Nachhaltigkeit braucht die volle gesellschaftliche Kontrolle über die Produktion, in der der Mensch sein handfestes Verhältnis zur Natur vermittelt.

Doch auch wenn Benjamin über alle vergangenen Revolutionen irrt – sie waren allesamt tatsächlich rasende Lokomotiven –, so hat er bei der anstehenden Revolution einen Nerv getroffen. Der historische Weg der Menschengesellschaft bewegt sich auf Schienen, so das Bild. Die Lokomotiven dieser Geschichte haben seine Passagiere, das Menschengeschlecht, rasant voran gebracht. So nicht zuletzt, sondern ganz besonders die Lokomotive, die es in den Kapitalismus befördert hat.

Nur: Das Kapital kam bereits bluttriefend auf die Welt, jeder Fortschritt, den er brachte, wurde mit ungezählten Stapeln von Leichen sowie körperlich und seelisch zerstörten Arbeiter:innen bezahlt. Seine progressive Phase hat der Kapitalismus längst durchfahren. Was bleibt ist nur die andauernde Verheerung und ein besonderes Verhältnis zur Natur, in dem diese der reinen Nutzbarmachung für das Kapital unterworfen ist. Es kann in der kapitalistischen Produktion keine Rücksicht auf sie genommen werden. Es kann nur gelten, wie ihre Inwertsetzung heute, zu einer neuen Vermögensanhäufung morgen, also wie der Raubbau an ihr zu noch mehr Profiten führen kann.

So gesehen bewegt sich die kapitalistische Gesellschaft auf einem zerstörerischen Pfad. Die Weichen wurden längst gestellt, der Weg in die ökologische Katastrophe ist von den Gleisen stahlhart vorgegeben. Was also, wenn Benjamin zwar nicht über die vergangenen, sehr wohl aber über die anstehende Revolution Recht hat?

Es ist tatsächlich nicht nur an der Zeit, sondern überfällig, die Notbremse zu ziehen. Also der Zerstörungsorgie ein Ende zu setzen. Der Kapitalismus hat uns längst auf den technischen und wissenschaftlichen Stand gebracht, die Natur weitreichend zu verstehen, sowie viele Milliarden Menschen zu ernähren und viele Bedürfnisse darüber hinaus zu befriedigen. Warum dann nicht endlich die Fahrt in Richtung Abgrund, die uns die Gleise vorgeben, stoppen?

Es liegt darin keineswegs eine Absage an den sozialen Fortschritt – die gesellschaftliche Freiheit, die der Sozialismus bringt, liegt nicht im nächsten Sprint der Lokomotive, sondern eben darin, aus dem Zug auszusteigen. Denn erst hier beginnt die Freiheit. Sie besteht darin, sich ein neues Verkehrsmittel zu suchen, das nicht auf dem geraden und unkontrollierbaren Weg der Schiene gefesselt ist, sondern die Gesellschaft ans Lenkrad (oder den Lenker) ihres eigenen Weges lässt. Erst hier beginnt die Freiheit, unser Verhältnis zur Natur bewusst zu regeln und mit den Bedürfnissen in Einklang zu bringen.

Notbremse – diese Metapher lässt es so einfach klingen. Das ist es aber natürlich nicht. Denn diese eingerostete Bremse zu ziehen, verlangt vereinte Kräfte und es müssen die Schaffner:innen und die mitreisenden Bundespolizist:innen überwunden werden, die sie bewachen. Machen wir uns für dieses Ringen bereit – der Lohn ist die frische Luft der Freiheit, die uns jenseits der Schiebetüren des Horrorzuges erwartet. Die Bremse zu ziehen ist in der Welt, in der wir leben, kein kurzentschlossener Akt eines einzelnen Reisenden, sondern das Ergebnis eines Kampfes einer gemeinsam handelnden Masse aufständiger Passagier:innen.

Deswegen auf zur Rebellion in den Zweite-Klasse-Waggons dieses Zuges – organisiert hält uns niemand auf!

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