Nicht selten ist in den vergangenen Wochen die anhaltende Protestwelle seit dem 19. März in der Türkei mit den Protesten um den Gezi-Park 2013 verglichen worden. Doch der Vergleich hinkt gewaltig. In den letzten zwölf Jahren hat sich nämlich nicht nur der türkische Staat und seine internationale Stellung drastisch verändert, sondern auch die grundlegende Möglichkeit der politischen Opposition. Was sich nicht geändert hat: dass die CHP die Krisen des Landes nicht lösen wird.
Als Ekrem İmamoğlu am Morgen des 19. März aufgrund von Korruptions- und Terrorismusvorwürfen festgenommen wurde, waren es die Student:innen der ODTÜ (Technische Universität des Nahen Ostens) und der Universität Istanbul, die gemeinsam mit der CHP-Führung zu Protesten mobilisierten. An diesen nahmen zwischen dem 19. und dem 26. März Millionen von Menschen in zahlreichen türkischen Städten teil.
Am Abend zuvor hatte die Universität Istanbul auf X verkündet, dass Ekrem İmamoğlus Diplom aberkannt werden würde. Hinsichtlich der 2028 anstehenden Präsidentschaftswahlen eine offensichtlich politisch motivierte Entscheidung: türkischer Präsident kann laut Verfassung nur werden, wer einen Hochschulabschluss besitzt.
Und als Präsidentschaftskandidat hatte sich Ekrem İmamoğlu, der nun suspendierte Bürgermeister von Istanbul und einzig aussichtsreicher Herausforderer Erdoğans, bereits angemeldet. Die CHP hatte ihn trotz Inhaftierung auf ihrem Kongress am 23. März als Präsidentschaftskandidaten der Partei erwählt.
Recep Tayyip Erdoğan, den türkischen Staat bereits jetzt fest im Griff, plant offensichtlich einen weitreichenden Ausbau seines Machtmonopols. Seine Taktik, die an Popularität gewinnende stärkste Oppositionskraft der Türkei, die CHP, außer Kraft zu setzen, deutet darauf hin. Und es ist diese oppositionelle Kraft, die nun als offizielles Sprachrohr der Proteste fungiert und sich als Märtyrer der demokratischen Sache in der türkischen Republik inszeniert.
Das unterscheidet Gezi von den derzeit in der Türkei stattfindenden Protesten. Die Gezi-Proteste gewannen zwar durch den spontanen Massenaufruhr an Kraft, an denen sicherlich auch bürgerliche Vertreter:innen beteiligt waren. Initial treibend war damals aber ein breites Bündnis an Organisationen, Gewerkschaften und Aktivist:innen, die schon in den Jahren zuvor gegen Gentrifizierung, Staatsumbau, Repression und Kapitalismus zusammengearbeitet und mobilisiert hatten.
Die zahlreichen repressiven Maßnahmen gegenüber allen Systemkritiker:innen, die Zerschlagung jeglicher antikapitalistischer Organisierung und der andauernde Kulturkampf zwischen diversen Milieus der türkischen Arbeiter:innenklasse – „urbane, gebildete, westliche“ Liberale gegen „ländliche, arme, ungebildete“ Konservative -, haben zur aktuellen Situation geführt, in der es keine echte Alternative mehr zur islamistisch-neoliberalen Autokratie von Erdoğan zu geben scheint – außer der CHP.
Wie die Türkei vom Regen in die Traufe kam
Die staatlichen Repressionen gegenüber der Gezi-Bewegung sollten nur eine Kostprobe dessen sein, was in den folgenden zwölf Jahren auf die Bevölkerung der Türkei warten würde. Spätestens bei der erneuten Wiederwahl zum Präsidenten 2014 trug Erdoğan seinen Willen, keinen Widerstand mehr zuzulassen, offen zutage. Er begann auch die öffentlichkeitswirksame Kampagne für die Einführung des Präsidialsystems – der damals einzigen Möglichkeit, seine Amtszeit zu verlängern und alle Staatsapparate unter seine direkte Kontrolle zu bringen.
2015 beendete er die Friedensgespräche mit der PKK. Devlet Bahçeli von der rechtsextremen MHP konnte das zum Anlass nehmen, den Schein des rechten Oppositionellen fallen zu lassen, um fortan mit Erdoğan zu koalieren.
Als 2016 der Putschversuch durch die Gülen-Bewegung niedergeschlagen wurde, konnte Erdoğan seinen bis dato größten Erfolg einstreichen. Durch die Verordnung der Notstandsgesetze hatte er die Möglichkeit, große Teile des staatlichen Medienapparats, der Justiz, sowie der Verwaltungen an den Universitäten unter die Kontrolle von ihm erwählter Verwalter zu stellen.
Es war deshalb nicht überraschend, als er 2017 mit den Stimmen der MHP ein Referendum für die Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem im Parlament durchsetzen konnte, das 2018 in Kraft trat und ihm ermöglichen sollte, weitere zehn Jahre zu regieren. Nun soll Erdoğans Amtszeit 2028 endgültig ablaufen – etwas Zeit, sicherzustellen, dass er auf unbegrenzte Zeit Hegemon der Türkei bleiben wird, hat er also noch.
Das ist auch der Bevölkerung der Türkei bewusst. Die im März in der Türkei ausgebrochenen Proteste sind deshalb nicht nur Ausdruck der Solidarität mit der Oppositionspartei CHP und, dem zugegebenermaßen in großen Teilen der türkischen Bevölkerung sehr populären, Ekrem İmamoğlu. Sondern auch der Frustration durch drastische Teuerungen, dem stetigen Abbau der Rechtsstaatlichkeit, der Perspektivlosigkeit der Jugend und nicht zuletzt dem zu erwartenden vollständigen Ableben jeder Form von Demokratie durch den von Erdoğan inszenierten, jüngsten Staatsstreich.
Die Proteste, die im liberalen türkischen Milieu bereits zur Bewegung des 19.März stilisiert werden, inszenieren sich besonders wirksam für die sozialen Medien und zeugen von der bodenlosen politischen Diffusität, die im vergangenen Jahrzehnt den Überbau der türkischen Gesellschaft unangefochten erobert hat.
Neben aktivistischen Studierenden-Bündnissen, die mittlerweile auch Arbeiter:innen dazu aufrufen, sich als Klasse an den Protesten zu beteiligen, finden sich unzählige kemalistisch-nationalistische CHP-Anhänger:innen. Hinter ihnen reihen sich rechtsextremistische Schlägertrupps, die den Wolfsgruß zeigen oder gelangweilte Jugendliche, für die sich das Spektakel eher humoresk gestaltet, ein. Alt-Linke und kommunistische Kleinstparteien rufen auf zu Generalstreiks, an denen sich keiner beteiligt. Die CHP mobilisiert zu den Protesten und ruft zum Kaufboykott auf, die türkische Regierung reagiert auf den Boykott mit der strafrechtlichen Verfolgung des Aufrufs.
Es ist eine kopflose Horde; unfähig gemeinsame Forderungen zu formulieren, nicht in der Lage dazu, die Kraft der Proteste langfristig umzuleiten, außerstande vertreten zu werden von einer Führung der Klasse, die es in der Türkei schon lange nicht mehr gibt.
Bei einer Sache sind sie sich jedoch einig: sie hassen Erdoğan. Aber ist er nicht der Kompromiss einer Gesellschaft, die so unversöhnlich gespalten ist? Oder wird sich die türkische Öffentlichkeit dazu entscheiden, dass stattdessen doch lieber die CHP im Namen des Laizismus ihre Klasseninteressen verschleiern soll?
Passivität – die bewährte Finte des türkischen Liberalismus
Wie aber hat die CHP in den vergangenen zwölf Jahren, als dauerhaft stärkste oppositionelle Kraft der Türkei auf die verschiedenen Krisen des Landes reagiert? Durch strategische Passivität. Erdoğans Popularität im Land lässt nach. Das war nicht nur in den Kommunalwahlen 2019 und noch vehementer in der Folgewahl 2024 zu vernehmen – war es doch die CHP, die als Gewinner beider Wahlen hervorging.
Auch die jüngsten Wahlumfragen zur Präsidentschaftswahl 2028 zeigen, dass die anhaltende Inflation (derzeit bei 39%) und jüngsten Lebenshaltungskrisen im Land auch an der loyalen Wählerbasis der AKP nicht spurlos vorbeiziehen. Lange hat die CHP die „unorthodoxe“ Wirtschaftsweise des türkischen Präsidenten kritisiert. Gefordert wurde statt dessen, dass die Zentralbank sich von der Abhängigkeit des türkischen Präsidenten löse, und eine Abkehr der Annahme, ein hoher Leitzins würde eine hohe Inflation verursachen. Allen voran: dass die korrupte Vetternwirtschaft, deren Profiteure die loyale Kapitalistenfraktion um Erdoğan sind, eingestellt werde.
Gleichzeitig konnte die CHP in den letzten fünf Jahren erfolgreich propagieren, dass die Rückkehr zu einer demokratischen Rechtsstaatlichkeit ebenso eine Rückkehr zu einer liberalen, konkurrenzorientierten Marktwirtschaft bedeuten würde, die in der Lage dazu wäre, das Land zu retten. Dass es eben die Autokratie des Erdoğan-Regimes wäre, die der vernünftige Markt früher oder später durch den kompletten Zusammenbruch der Wirtschaft strafen würde.
Dabei hätte die CHP nach der Niederlage in der vergangenen Präsidentschaftswahl 2023 keinen anderen wirtschaftspolitischen Kurs eingeschlagen, als es der 2023 unter Erdoğan ins Amt bestellte und als renommierter, „orthodoxer“ Ökonom geltende Finanzminister Mehmet Şimşek getan hat.
Dieser kürzte kurzerhand die für die Arbeiterklasse und Mittelschicht überlebensnotwendigen Beihilfen, wie niedrigschwelligen Zugang zu Kreditkarten und Verbraucherkrediten, unter anderem um das Zahlungsbilanzdefizit des Bruttoinlandsprodukts zu senken. Das gelang. Die einerseits positiven Auswirkungen auf das Finanzloch, drückten sich auf der anderen Seite in der Bevölkerung, die abhängig von der Verschuldung geworden war, durch Hunger aus.
Gerade deshalb war der Verlust der Präsidentschaftswahl 2023 die Bedingung für den Erfolg, den die CHP in den Kommunalwahlen 2024 und nun durch die Solidaritätswelle 2025 erlebt – sie mussten die Unzufriedenheit der Bevölkerung lediglich aussitzen. Denn sie hatten in den vergangenen zwei Jahrzehnten ihrer Opposition nichts getan, das es wert wäre, bejubelt zu werden. Die Strategie des Abwartens zahlte sich aus.
Auch lag es der kemalistischen CHP im Rahmen der „Flüchtlingskrise“ nicht fern, gemeinsam mit den neu gegründeten oppositionellen Parteien, iyi parti (gute Partei) und zafer partisi (Partei des Sieges), die aus der MHP hervorgegangen waren, bereits unter vielen Türk:innen bestehende anti-syrische Ressentiments im Land weiter zu schüren, indem sie dauerhaft implizierten, dass die Syrer:innen von Erdoğan ins Land geholt worden seien, um die nationale, laizistische, türkische Identität durch eine arabische, sunnitsch-islamistische auszutauschen, um so Erdoğans Stellung im Land, aber auch als Hegemon einer neuen islamistischen Welt zu festigen. Das alles mit dem Ziel, Erdoğans Stellung im Land, aber auch als Hegemon einer neuen islamistischen Welt zu festigen.
Diese rassistische Kampagne, die sicher nicht lang konzipiert werden musste, sondern der DNA der CHP zugrunde liegt, hat die ideologische Spaltung im Land weiter vertieft und zur diffusen politischen Situation beigetragen, die man heute auf den Protesten beobachten kann.
Klar ist, dass die CHP nicht in der Lage dazu ist, die türkische Arbeiter:innenklasse zu vertreten. Es ist ohnehin nicht in ihrem Interesse. Die wahre Tendenz ihrer Opposition gegenüber der AKP ist eine Rückkehr zur staatlichen Vertretung aller Interessen der türkischen Bourgeoisie, statt der bevorzugten Behandlung der von Erdoğan zum Gewinner auserkorenen Kapitalistenfraktion.
Wo aber bleiben die Kurd:innen?
Die progressive, politische Tradition der Türkei war in den letzten Jahrzehnten geprägt von den Organisationsversuchen kurdischer und alevitischer Aktivist:innen. Auch die Gezi-Proteste verdeutlichten das: in den alevitischen und kurdischen Vororten und Stadtteilen Istanbuls war der Widerstand gegen die Polizeigewalt am größten, die organisierte Antwort auf die politischen Repressionen am gewaltigsten. Doch bei den derzeitigen Protesten bleibt vor allem eine organisierte kurdische Antwort größtenteils aus. Woran liegt das?
Einer der Gründe liegt in der langen, verräterischen Geschichte der CHP im Umgang mit den Kurd:innen im Land. Während die CHP in den vergangenen Jahren immer wieder bereit dazu war, die Unterstützung der kurdischen Oppositionsparteien anzunehmen, wenn es Richtung Wahlen ging, propagierte sie zwischenzeitlich dauerhaft antikurdischen Rassismus. So profitierte die CHP vom gemeinsam mit der DEM-Partei begangenen „Stadt-Konsens“: Die DEM-Partei verzichtete bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2023 darauf, eigene Kandidat:innen in einigen türkischen Städten aufzustellen, um die Stimmen auf die Kandidat:innen der CHP umzuleiten. Ziel war dabei, die AKP konzentrierter herausfordern zu können.
Zwei Jahre später, im März 2025, nach der Verhaftung İmamoğlus und während der Newroz-Feierlichkeiten (die dieses Jahr zumindest in Istanbul nicht von der Polizei angegriffen wurden!): Der CHP-Bürgermeister der Stadt Ankara, Mansur Yavaş (ehemals MHP), nach İmamoğlus Absetzung vermutlich nächster CHP-Präsidentschaftskandidat, lässt verlautbaren, wie angewidert er vom Schwenken der „Lumpen“ (Kurdistan-Flaggen) sei. Ist es dann verwunderlich, dass die Kurd:innen sich den Protesten nicht in großen Zahlen anschließen, um dann mit ihnen feindselig gestimmten, türkischen Nationalist:innen jeder couleur für die CHP zu demonstrieren?
Und wo blieb der Aufschrei der Demokratie-liebenden CHP, als in den vergangenen Monaten die Bürgermeister einiger kurdischer Provinzen mit Zwangsverwaltern ersetzt worden waren? Hatte nicht erst dieses Vorgehen gegenüber kurdischen Politiker:innen in der Türkei die Methoden des aktuellen Staatsstreichs legitimiert?
Ein Friedensprozess, um besser Krieg zu führen
Trotz Massenprotesten und katastrophaler Inflation werden Erdoğan und Handlanger gerade wohl die letzten sechs Monate und die Aussicht für die Raubzüge der kommenden Jahre ihrer Barbarei in einem seiner Schlösser feiern.
Der Sieg des von der AKP-Regierung unterstützen Al-Qaida Ablegers HTS in Syrien und die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten sind genug Anlass zur Freude. Zum ersten Mal in der Geschichte des Autokraten Erdoğan geht einer seiner vielen, multilateralen, imperialistischen Versuche vollständig auf. Aktuelle geopolitische Entwicklungen könnten sicherstellen, dass die Türkei bei den Kriegen die kommen werden, ihre Einflusssphäre im Nahen Osten gewaltig ausdehnen wird, um so endlich mit Saudi-Arabien um die Vormachtstellung in der sunnitischen Welt konkurrieren zu können.
Gerade um dieses imperialistische Projekt fortzuführen, muss Erdoğan weiter an der Macht bleiben. Er gedenkt deshalb die Antwort auf seinen eigenen Machterhalt über die Kurdenfrage zu liefern. Als die Türkei im letzten Jahr den Friedensprozess mit der PKK einleitete, war für große Teile der Öffentlichkeit wohl kaum damit zu rechnen, dass dieser in so kurzer Zeit, zu so großen Erfolgen für die türkische Regierung führen würde.
Denn das führte in den letzten Wochen mit dazu, dass die von der Türkei gestützte SNA (syrische Nationalarmee) problemlos in nordkurdisches Gebiet eindringen konnte, wobei unzählige Zivilist:innen starben. Diese Militäroperationen dienten nicht nur der unmittelbaren Ausdehnung der türkischen Einflusssphäre, sondern auch der taktischen Stärkung der eigenen Verhandlungsposition mit der kurdischen DEM-Partei (der legale Arm der PKK). Mit ihnen wird Erdoğan in den kommenden Monaten über die Bedingung der „Öffnung demokratischer Kanäle“ für die kurdische Minderheit und den Frieden in der Türkei verhandeln. Auch die Ersetzung demokratisch gewählter Bürgermeister in den kurdischen Provinzen Mardin, Batman und Van mit Zwangsverwaltern aus der AKP stehen in diesem Zusammenhang.
Über folgendes innenpolitisches Szenario lässt sich deshalb spekulieren: Erdoğan wird, um über 2028 hinaus an der Macht bleiben zu können, ein parlamentarisches Bündnis anstreben, um eine Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung zu haben. Die Stimmen der AKP und der MHP reichen dafür nicht aus. Ein Dritter muss in den Bund. Dieser Dritte soll die DEM-Partei sein.
Die DEM-Partei äußerte sich seit dem 19. März nur vorsichtig zu den Massenprotesten, um den eingeleiteten Friedensprozess, der derzeit lediglich ein einseitiger Waffenstillstand ist, nicht zu gefährden. Sie traf sich jedoch vergangenen Montag anlässlich des Zuckerfests erstmals mit der MHP und symbolisierte so den Beginn eines „Versöhnungsprozesses“ zwischen den Parteien. Die DEM-Partei lässt noch offen, in welche Komplizenschaft sie sich hineinziehen lassen wird. Sie hat derzeit aber zwei Optionen.

Eine Möglichkeit ist dabei, dass die Massenproteste der CHP zu so viel Zuspruch im Land verhelfen, dass die DEM-Partei gemeinsam mit ihr regieren können wird. Diese Möglichkeit wirft gleichermaßen Fragen auf: Welcher CHP Politiker hätte auf einen Wahlsieg ebenso große Chancen wie İmamoğlu? Und wird die kurdische Öffentlichkeit, der CHP vertrauen können?
Eine andere, wahrscheinlichere, Möglichkeit ist, dass die AKP mit Hilfe der DEM ein Verfassungsreferendum abstimmen lässt, das auch in weiten Teilen der kurdischen Bevölkerung auf Zuspruch stoßen würde. Denn neben der Schaffung der Erdoğan-Diktatur könnte ein neues Verfassungspaket auch die Kurdenfrage lösen – nämlich ein für alle mal. Vielen Forderungen könnte durch eine Änderung der Verfassung entgegenkommen werden: muttersprachlicher Kurdischunterricht an den Schulen, die Freilassung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş, vielleicht sogar die von Abdullah Öcalan. Auch die Abschaffung des Zwangsverwaltungsgesetzes, das eine teilweise Autonomie in den kurdischen Provinzen ermöglichen würde. Man kann nur darauf hoffen, dass sich die DEM-Partei nicht damit zufrieden geben wird. Auf Zuversicht sollte man allerdings nicht spekulieren.
Es gibt in diesen Tagen wenig Anlass dazu, hoffnungsvoll zu sein. Mit oder ohne Protestwelle. Die aktuelle Regimekrise und die imperialistischen Bestrebungen der türkischen Republik wird auch sie nicht ausräumen können, so wie es selbst die deutlich besser aufgestellte Gezi-Bewegung nicht geschafft hatte. Jedoch bleibt wünschenswert, dass die Proteste ein langfristiges, radikalisierendes Moment entwickeln und die Spaltung des Landes in diesem Zuge in einer einheitlichen, organisierten Antwort der Arbeiter:innenklasse aufgehoben wird. Es bleibt jedoch wichtig, eine sich anbahnende Niederlage auch als solche zu benennen.