Auf Einladung des Stadtteilkomitee Neukölln war Mesut Bayraktar am 10.10.2025 zu Gast in der Roten Lilly. Dort las er aus seinem Buch “Die Lage” vor und diskutierte mit den Teilnehmenden über die Rolle von Kunst und Literatur im Klassenkampf sowie in der aktuellen Aufrüstungspolitik. Das Interview führte das STK-Neukölln im Anschluss.

Mesut Bayraktar, geb. 1990 in Wuppertal, hat Rechtswissenschaften und Philosophie studiert. Er ist Autor verschiedener Romane, eines Sachbuchs zu G. W. F. Hegel, des Theaterstücks „Gastarbeiter-Monologe” und des Erzählbands „Die Lage”. Ganz aktuell ist sein sein Lyrikdebüt „Linke Melancholie” im Autumnus Verlag erschienen.
Erstmal zu dir selbst, wie bist du zum Schreiben gekommen?
Ich habe in meinem eigenen Leben erfahren, welche Kraft die Geschichten über meine Leute und die eigene Klasse in meinem Körper freisetzen können. Das verwandelt Wut in Erkenntnis, das schafft Selbstbewusstsein aus Verwundbarkeit. Vor allem macht es aber handlungsfähig, wenn eine Geschichte ein gemeinsamer Bezugspunkt unterschiedlicher Köpfe und Herzen an unterschiedlichen Orten und Zeiten wird. Plötzlich merkt man, man ist nicht allein mit all dem Druck und Scheiß, den die bürgerliche Gesellschaft für dich und die arbeitende Klasse vorsehen. Ich habe aber auch am eigenen Körper gespürt, was es bedeutet, wenn niemand über dich und deine Klasse schreibt und unsere Geschichten nicht erzählt werden. Dann wird uns unsere Existenz abgesprochen, und übrig bleiben Scham, Einsamkeit, Selbsthass. Ich wehre mich dagegen mit meinem Schreiben und ich bin fest davon überzeugt, dass man über die Klasse nur schreiben kann, wenn man mit ihr verbunden ist und für sie kämpft.
Man kann ja auf aus verschiedensten Perspektiven schreiben, was leitet dich an und worauf achtest du dabei?
Das Wichtigste ist Augenhöhe. Ich schreibe über Arbeiter:innen, Arme, Unterdrückte, Verzweifelte, Hoffende, Kämpfende, Liebende, Weinende, Verlassene und Widerständige. Ich schreibe über proletarische Körper. Ich will diesen Körper weder so darstellen, als wäre er ein Opfer seiner Verhältnisse oder aus eigener Schuld. Ich will diesen Körper aber auch nicht auf ein Podest stellen und zu Helden stilisieren, an denen die Verhältnisse abprallen wie an einer Wand aus Stahl. Die Würde meiner Leute ist der Ausgangspunkt meiner Literatur. Deshalb bemühe ich mich, dass meine Figuren in der Lage der arbeitenden Klasse verankert sind und zugleich mit einer Vielzüngigkeit, Vielköpfigkeit, Vielschichtigkeit auftreten, wie ich sie in der Realität erlebe und beobachte. Unter diesem Gesichtspunkt bin ich sozialistischer Realist, die Realität ist Anfang und Ende meines Schreibens, und diese Realität nehme ich mit sozialistischem Bewusstsein. Ja, in diesem Sinn lebt der sozialistische Realismus wie ein unvollendeter Auftrag im 21. Jahrhundert fort.
Teil dieser Realität ist ja aktuell wieder das Thema Aufrüstung und Militarisierung. Welche Auswirkung hat diese Entwicklung auf den Kulturbereich?
Militarismus ist ja nicht nur Aufrüstung und Kriegsindustrie, wie wir seit Luxemburg, Liebknecht und Lenin wissen. Militarismus ist vor allem auch der Kampf der Bürgerlichen, den Glauben an die Notwendigkeit und Richtigkeit von Imperialismus, Krieg und Rassismus in der Bevölkerung zu verbreiten, also geistige Mobilmachung. Und diese Arbeit soll und muss die Kultur leisten. In der Kultur bedeutet Militarismus also erst einmal Kriegspropaganda.
Beobachten konnte man das zum Beispiel an vielen exilukrainischen Künstler:innen in den letzten drei Jahren. Mit ihren Arbeiten propagieren sie auf Megabühnen den Schützengraben an der Ostfront für die Europäische Union, während sie zugleich in den reichen Ländern Westeuropas touren, bequem logieren und hochdotierte Preise einräumen, ob ein Residenzstipendium oder den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Mit dem Krieg lässt sich auf vielen Wegen Geld machen.
Auf der anderen Seite spüren allerdings auch viele Künstler:innen in diesem Land den kulturpolitischen Kahlschlag durch die neue Regierung. Vor allem in der sog. freien Szene. Projekte werden gestrichen, Spielorte zugenagelt, Fördergelder für Buchprojekte gekürzt, unabhängige Verlage in den Bankrott getrieben – zur Freude der Monopolisten. Daher die Demos und Kundgebungen, wie wichtig die Kultur sei. Unabhängig davon, wessen Kultur und Kultur für wen, erstaunt mich manchmal die intellektuelle Blödheit, sich über Kulturkürzungen zu ärgern, das aber nicht mit der haushaltspolitischen Umverteilung unter das Primat der Sicherheitspolitik in Verbindung bringen zu können – mit anderen Worten, unter dem neuen Militarismus in Deutschland und dem Kriegsrausch des Kapitals zu stehen. Als wäre Aufrüstung ein naturgesetzlicher Sachzwang.
Dabei könnte die Einsicht so leicht sein: Für Kultur soll immer weniger Geld da sein, für Panzer wird grenzenlos Geld bereitgestellt. Wer also die Kultur wirklich verteidigen will, der muss auch für Frieden auf die Straße gehen, wer für den Frieden kämpfen will, der muss die Sache der Ausgebeuteten zu seiner Sache machen – zur Sache der Kultur.
Im Kontext von Krieg und Militarisierung kann Kultur verschiedene Rollen einnehmen. Welche Gefahren siehst Du hier?
Seit dem 27. Februar 2022, der Zeitenwende-Rede vom damaligen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), noch mehr seit dem 7. Oktober 2023, als „Nie wieder für alle“ umgemodelt wurde in „Nie wieder ist jetzt“, ist vor allem eins zu beobachten, nämlich wie einwandfrei die bürgerlichen Kulturmacher:innen und Intellektuellen dem Gerede von der Staatsräson nachplappern. Dieser sorglose Opportunismus ist beschämend, aber auch folgerichtig für die Wachhunde des Kapitalismus. Sie lecken die Hand, die sie streichelt und füttert, ganz nach der Redewendung: „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing“, gelebte Kulturindustrie.
Das war zuletzt in der Debatte rund um Israel und dem Völkermord an den Palästinenser:innen beobachtbar. Plötzlich wollen sie alle über das „unsägliche, unfassbare, grauenhafte, unmenschliche usw. usf. Leid“ sprechen, weil die Realität nicht mehr verdrängt werden und weil man unseren Protesten auf der Straße nicht mehr aus dem Weg gehen kann.
Das kommt davon, wenn man im Übereifer die Slogans und Banner der Staatsräson an seinen Theatereingängen ausrollt und mit Lautsprechern in die Feuilletonspalten und in seine Manuskripte rotzt. Manchmal denke ich, dass das Problem noch tiefer liegt, dass die historische Rolle und Tradition von Kulturmacher:innen und Intellektuellen in diesem Land gerade darin liegen, die Agenda der herrschenden Klasse in die Gefühle und Gedanken der Massen zu übersetzen, damit sie nicht aufbegehren. Und das nennen sie dann Kultur.
Gibt es nicht auch positive Beispiele und Chancen für linke Bewegungen?
Klar, es gibt andersläufige Beispiele, Büchner oder Heine. Der eine wurde aber gejagt und in den Tod getrieben, der andere wurde verjagt und in den Tod getrieben, beide denunziert. Brecht? Der war schon kein traditioneller Bourgeois-Künstler mehr, sondern Klassenkämpfer und Kommunist. In anderen Ländern gibt es andere Traditionen und ein anderes Selbstverständnis.
Nimm Frankreich, da wirst du als Kulturmacher:in und Intellektuelle:r überhaupt erst respektiert, wenn du gegen den Strom gehst, der Herrschaft widersprichst, deine Stimme für die Ausgebeuteten erhebst. Hier allerdings schimpft sich jeder Idiot Künstler, nicht weil er widerspricht, sondern weil er ein braver Mitläufer der Staatsräson ist. Dagegen haben wir nur eine Chance: Uns an unsere Tradition erinnern, sie verteidigen, stabile Künstler:innen herbeischaffen und Gegenkultur aufbauen!

Selbstvorstellung: Stadtteilkomitee Neukölln
In der Roten Lilly kommen wir als Nachbarschaft zusammen, tauschen uns aus und unterstützen einander. Denn gerade in Neukölln sind die alltäglichen Probleme extrem: ob die immer weiter steigenden Mieten, Schikanen durch Behörden, Arbeitsplatzverlust, Armut oder Polizeigewalt. Dagegen organisieren wir uns, aber vor allem wollen wir gemeinsam eigene Alternativen aufbauen. Wir veranstalten regelmäßig kulturelle und politische Veranstaltungen, in unserer Kiez-Kantine kochen und essen wir gemeinsam und die Beratungsangebote sollen eine Hilfe bei kleinen und großen Problemen sein. Jeden Freitag findest das offene Cafe von 17 bis 20 Uhr statt, alle weiteren Aktivitäten und Angebote findet ihr auf unseren Social-Media Kanälen. Kommt mit euren eigenen Gedanken und Ideen vorbei, um den Laden und die Angebote mitzugestalten.
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Wir haben noch zwei Schwestern, die nach demselben Konzept arbeiten: Das STK Lichtenberg und Wedding. Falls ihr in deren Nachbarschaft wohnt, schaut auch gerne dort vorbei!

