Vom Durchfahren der Heißläuferortungsanlage

Walter Benjamins Bild von der Revolution als Notbremse in einem rasenden Zug ist aktueller denn je. Ein Blick auf die Entwicklung der ökologischen Katastrophe wirft jedoch die Frage auf, ob unserem rasenden Zug nicht langsam die Bremsen ausfallen.

Bericht für Bericht werden die Szenarien der Klimawissenschaftler:innen düsterer. In Benjamins Bahn-Metapher wären sie wohl die Heißläuferortungsanlagen, welche pflichtbewusst, doch ungehört, verhallende Nothaltaufträge absetzen. Selbst die Notbremse wird den Zug kaum noch entschleunigen können, nun, da seine Bremsen verglühen und die aktuellen Zugführer gleichzeitig sogar das Tempo erhöhen.

Dieser Januar war der 18. Monat in Folge, in dem ein Allzeit-Temperaturrekord gemessen wurde. Die durchschnittliche Temperatur stieg weiter um 1,75°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau an. Dies übertrifft Erwartungen, da die la Niña Phase des Wetter-/Strömungssystems im Pazifik historisch Abkühlung mit sich brachte. Jede realistische Betrachtung der Lage muss ein Scheitern der 1,5 und 2-Grad-Ziele feststellen. Zumal keines der Kohle, Öl oder Gas fördernden Länder plant, die Produktion in näherer Zukunft zu drosseln – im Gegenteil werden die Produktionsziele beständig nach oben geschraubt.

Einige kritische Systeme bewegen sich immer weiter auf ihre Kippunkte zu. Der Amazonas-Regenwald geht unter einer jahrelangen Dürre langsam in die Knie. Die Pegelstände in seinen Flüssen sind extrem niedrig und die Entwaldung schreitet rasant voran. War 1975 weniger als 1% entwaldet, sind heute schon über 18% unwiederbringlich verloren. Zudem droht die Dürre 38% des Waldes verdorren zu lassen. Der sterbende Wald hat kürzlich damit begonnen, mehr CO2 auszustoßen, als er absorbiert. Die grüne Lunge der Erde kollabiert.

An den Polkappen sieht es nicht besser aus. Das ewige Eis des Nordpolarmeeres ist größtenteils nur noch einen Winter alt und so dünn, dass die Handelsflotten mit regulären Durchfahrten der – einst legendär undurchdringlichen – Nordost- und Nordwestpassagen begonnen haben. Die Gletscher in Grönland verlieren mehr Eis als jemals zuvor beobachtet. Auch in dieser Region droht eine Treibhausgassenke zur Quelle zu werden: Permafrostböden beginnen weltweit zu schmelzen, teilweise unumkehrbar. Dabei wird das Treibhausgas Methan freigesetzt.

Nichtmenschliche Quellen von Treibhausgasen, wie der sterbende Wald oder die abtauenden Böden, sind in keinem der ohnehin unzulänglichen Pläne zur Emissionskontrolle berücksichtigt, beschleunigen den Klimawandel aber ungeachtet jeglicher Excelschubserei weiter. Die Verheerungen der Kapitalistenklasse haben die Menschheit auf Generationen hin dazu verdammt, ihre Lebensgrundlagen wiederherzustellen, anstatt sich weiterzuentwickeln, selbst wenn die Revolution morgen vor der Tür stünde. Jede Minute, die sich die Parasitenklasse weiter halten kann, kostet heute und morgen abertausende Tote, stellt vielleicht die Existenz der Menschheit insgesamt aufs Spiel.

Sei kein Frosch

Das „Zeitalter des globalen Kochens“ hat begonnen, wie es der UN-Generalsekretär Antonio Guterres kürzlich formulierte. Wie dramatisch die Folgen dieser Krise sind, und was noch auf uns zu kommt, scheint jedoch aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängt zu sein. In Umfragen nimmt der Anteil derer zu, die schlicht nicht an den Klimawandel glauben. Die Menschheit droht, langsam gegart zu werden. Und das, ohne effektiven Widerstand dagegen zu leisten. Wie der sprichwörtliche Frosch, der nicht aus dem Kochtopf springt, solange das Wasser nur langsam genug erwärmt wird. Eine passende Analogie, wenn man bedenkt, dass dem Frosch aus dem Experiment ebenso zuvor Teile des Gehirns entfernt wurden. Das ökologische (Klassen-)Bewusstsein wird seit Jahrzehnten von Kapitalvertretern planmäßig unterdrückt und zerstört.

Im Falle der Klimakrise wurde ihre Existenz zunächst verschwiegen. Ölkonzerne beispielsweise hatten spätestens in den 1960er Jahren gesicherte Erkenntnisse zu ihren Ursachen und Folgen. Als das Thema in den 80ern mit der flehenden Rede des NASA Wissenschaftlers James Hansen vor dem US-Kongress, nicht mehr verschwiegen werden konnte, begann die Industrielobby eine tiefgestaffelte Verteidigung aufzubauen.

Eine Studie von Exxon aus dem Jahr 1982 © Science/AAAS

Ungezählte Lobbyorganisationen orchestrietren die Leugnung und das planvolle Säen falscher Zweifel in Bezug auf den Klimawandel. Sie förderten gezielt den Aufbau des heutigen CO2-Ablasshandelsystems und die Verlagerung der Schuld auf die Konsument:innen. Im Politikbetrieb sind die Träger dieser Ideologie Parteien wie die Grünen, die nur die Interessen spezifischer Kapitalfraktionen vertreten – und damit Teil des Problems sind.

Das sich abzeichnende Wegbrechen der Lebensgrundlagen des Großteils der Weltbevölkerung kann im Kapitalismus nicht abgewendet werden. Dieses System hat ein einziges Ziel, für das alle Schranken durchbrochen werden: Der als Kapital eingesetzte Wert muss in seinem ewigen Zyklus immer weiter gesteigert werden. Das Problem dabei ist, dass der Wert nicht von einem ewig ansteigenden Verbrauch von Ressourcen und der Erzeugung von Abfall entkoppelt werden kann, da der Wert nicht ohne einen stofflichen Träger auskommt.

Die Entkopplung von Produktion und Ressourcenverbrauch wird natürlich auch im Sozialismus nicht aufzuheben sein. Dennoch kann nur die Wendung hin zu einer bewussten und bedürfnisorientierten Produktion die Vorraussetzungen schaffen, die natürlichen Grenzen der Erde einzuhalten. Wir müssen deshalb eine Produktionsweise erkämpfen, in der genug für alle produziert wird, nicht mehr und nicht weniger.

Wir müssen heutzutage außerhalb des Zuges denken, um den Zug noch zum Halten zu bringen. Um den außer Kontrolle geratenen Zug zu stoppen, ist vielleicht eine Entgleisung die einzige Option. So kann man wenigstens eine Stelle bestimmen, an der er möglichst wenig Schaden anrichtet. Dabei geht immer noch viel zu Bruch, aber das ist ohnehin nicht mehr zu vermeiden.

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