Am 1. November 2024 stürzte ein Bahnhofsdach im serbischen Novi Sad ein und tötete 15 Menschen. Von den Unis des Landes ausgehend, haben sich die Proteste schnell zu einer Massenbewegung entwickelt.
Der Hauptbahnhof von Novi Sad wurde bis Juli 2024 drei Jahre lang renoviert. Der Ablauf war dabei typisch für die Baubranche: Der ehemalige Bauminister Goran Vesić beauftragte zu Beginn zwei chinesische Firmen. Die beiden zuständigen Firmen wiederum übergaben die einzelnen Renovierungsarbeiten an große serbische Firmen. Und diese gaben die Aufträge weiter an Kleinunternehmen. Insgesamt ist von 80 beteiligten Firmen die Rede. Die ursprünglich veranschlagten Kosten von drei Millionen Euro explodierten am Ende auf 15 Millionen Euro.
Die Gelder flossen in die Taschen undurchsichtiger Firmen – aber kein Cent davon ins Bahnhofsdach. Genau dieses, eben nicht-renovierte, Dach stürzte ein und begrub 15 Menschen unter sich. Kurz nach dem Einsturz demonstrierten Studierende auf den Straßen von Novi Sad unter dem Motto: „Kriviste. Odgovaraćete“ („Ihr seid schuld. Ihr werdet die Verantwortung tragen“). Ihre Wut und ihre Forderungen richteten sich gegen den Präsidenten Aleksandar Vučić und die Regierung von der „Serbischen Fortschrittspartei (SNS)“.
Ausweitung der Proteste

Die Demonstrationen konnten jedoch nicht friedlich stattfinden. Sowohl vonseiten der Polizei, als auch durch organisierte Gruppen gab es immense Gewalt gegen die Protestierenden. Als Antwort besetzten Student:innen die „Fakultät der Dramatischen Künste“ (FDU) in Belgrad. Ihre Forderungen waren: Die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für den Einsturz des Dachs am Bahnhof, der Schutz der Protestierenden sowie die Bestrafung der Angreifer auf die Demonstrationen. Innerhalb kürzester Zeit schlossen sich mehr als 60 weitere Fakultäten den Forderungen an, darunter alle großen Universitäten in Belgrad, Novi Sad und Niš.
Am 24.01 wurde in Belgrad der erste Generalstreik ausgerufen, dem sich auch Gewerkschaften anschlossen und sogar Schulen blieben zum Teil geschlossen, da auch Lehrkräfte mit streikten. Kurz darauf trat der damalige Premierminister Miloš Vučević zurück. Er begründete das unter anderem mit der zunehmenden Gewalt gegen die Bevölkerung, die er mit seinem Rücktritt vermeiden wolle. Was er nicht sagte, war, woher die Gewalt kam. Kein Wunder, denn die Angriffe gingen von Hooligans, Ultranationalisten und militanten regierungstreuen Strukturen der SNS aus, die gezielt gegen die Demonstrierenden vorgingen. Die Regierung sieht offensichtlich ihre Macht massiv bedroht und versucht die Bevölkerung einzuschüchtern.
Doch aktuell passiert das Gegenteil. Die Proteste werden mittlerweile nicht mehr nur von Studierenden getragen, sondern haben sich in die ganze Bevölkerung verbreitet. Landwirt:innen mit Traktoren, Lehrkräfte, Anwälte und Arbeiter:innen schließen sich massenhaft den Demonstrationen an. Denn nach 12 Jahren Amtszeit unter Vučević ist die Mehrheit der Bevölkerung zutiefst unzufrieden mit der Regierung. Viele Menschen vermuten Manipulationen bei den vergangenen Wahlen, Staatsbeamte veruntreuen Steuergelder, während ein Drittel der Bevölkerung unter einer starken Armut leidet. Der Konflikt mit Kosovo wird nationalistisch instrumentalisiert und seitens der serbischen Regierung angeheizt, um verzweifelt die nationalen Einheitsgefühle in der Bevölkerung zu wecken. Bislang jedoch erfolglos, die Protestierenden bleiben bei ihren Forderungen und weichen von ihrer Staatskritik nicht ab.

Die Rolle der EU
Interessanterweise gibt es keine lauten Pro-EU Stimmen und innerhalb der Demonstrationen sieht man keine EU-Fahnen. Bitten und Forderungen an die EU oder die Opposition innerhalb des serbischen Parlaments finden sich kaum, da die Bevölkerung in diesen Akteuren keine Bündnispartner mehr sieht. Grund für die Abkehr von der EU ist vor allem ein Lithium-Abbau-Deal, der zwischen der serbischen Regierung und der EU im Juli 2024 geschlossen wurde. Aufgrund der immensen Umweltschäden der geplanten Lithiumförderung, schwappte schon vergangenes Jahr eine Protestwelle durch Serbien. Trotz des klaren Unmuts der Bevölkerung schloss die Regierung unter Vučić den Pakt ab, unter den Augen des extra dafür angereisten Olaf Scholz.
Auch wenn Vučić medial behauptet, die Proteste seien vom Ausland gelenkt, so ist spätestens nach dem Abkommen mit der EU klar, dass diese Behauptung aus der Luft gegriffen ist. Denn die serbische Regierung hat selbst ein großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem Westen. Serbien ist EU-Beitrittskandidat und hat einen Großteil der Sanktionen gegen Russland mitgetragen. So verwundert es auch wenig, das es kaum kritische Stimmen zum Verhalten der Regierung von Seiten der EU gibt. Auch die mediale Berichterstattung zu den größten Protesten Serbiens seit Jahrzehnten ist verhalten bis marginal. Hieran zeigt sich deutlich: Das Interesse und die Unterstützung von Protesten einer Bevölkerung richtet sich am Ende immer nur danach, ob diese dem Vorgehen der EU und bestimmten Kapitalinteressen dienen. Irrelevant das autokratische System, der Profit muss stimmen.
Wie weiter?
Seit November 2024 ruht die serbische Bevölkerung nicht mehr, sondern geht auf die Straße, besetzt Fakultäten, blockiert Hauptstraßen, ruft Generalstreiks aus. Blutverschmierte Hände sind das Symbol der Bewegung, die unter dem Motto ,,Krvave su vam ruke!“ (,,Blut klebt an euren Händen!“) protestieren und Gerechtigkeit, grundlegende allgemeine Systemänderungen, ein Ende der Korruption sowie mehr Demokratie fordern. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichten die Proteste am 15.03., wo hunderttausende Menschen in ganz Serbien auf die Straßen gingen und gegen die Regierung demonstrierten.
Die SNS, aber auch die Opposition, steht unter gewaltigem Druck. Bisher wurden keine der Forderungen der Menschen umgesetzt. Offen ist, ob die Regierung solche Zustände einfach weiter aussitzen kann, oder ob es den Demonstranten gelingt, die serbische Regierung aus dem Amt zu jagen. Vučić hat bereits angedeutet, dass er zu Neuwahlen bereit sei. Was danach kommt und vor allem, ob es Verbesserungen geben wird, bleibt abzuwarten. Denn so kraftvoll die Besetzungen, Streiks und Demonstrationszüge auch sind, es fehlen weiterführende Vorstellungen für den Tag nach einem Präsidenten Vučić.