Erst war der Pass weg, dann begann das Martyrium

Bau, Gastro, Gebäudereinigung – in den körperlich anstrengendsten Sektoren der Wirtschaft herrscht ein System von Überausbeutung und Zwangsarbeit ausländischer und migrantischer Arbeitskräfte vor.

Vor einiger Zeit stieß mein Arbeitskollege Sebastian bei einem Spaziergang in einem Neuköllner Park auf einen blutenden Mann mit einer Kopfwunde. Der – nennen wir ihn Enes* – sprach kein Deutsch. Sebastian nahm ihn mit in seine Wohnung, versorgte ihn, gab ihm Kleidung und mithilfe einer Übersetzungssoftware verständigten sich die beiden notdürftig.

Enes war um 2020 aus Albanien nach Deutschland gekommen. Seine Aufenthaltserlaubnis war jedes Mal auf 3 Monate begrenzt, Arbeitserlaubnis hatte er keine. Das aber ist auf dem Bau in Deutschland kein Problem. „Die Nachfrage ist groß, Arbeiter für Baustellen sind sehr gefragt“, erzählt er. Acht bis zehn Stunden täglich arbeitet Enes auf Baustellen in Berlin, 6 Tage die Woche. Normalerweise kriegt er 10 Euro die Stunde, das Höchste, was er bekommen hat, liegt bei 12 Euro. Manchmal wird pauschal bezahlt, 600 Euro die Woche, 6 Tage jeweils zehn Stunden. Natürlich schwarz. Versichert ist er nicht.

Enes arbeitete im Trockenbau, Wände hochziehen. Er ist Teil des auf dem Bau berüchtigten Karussells von Subunternehmen. „Die Deutschen“ – er meint den Generalunternehmer – „geben den Auftrag weiter an die Türken, die Türken dann an die Albaner und jeder schaut, dass er die Arbeit so billig wie möglich weitergeben kann“, erzählt Enes. „Die Bedingungen in Deutschland sind miserabel. Jeder will den anderen abzocken.“ Die Löhne seien viel zu niedrig, wenn es zu Arbeitsunfällen kommt, würden die Leute „wie Hunde“ einfach auf die Straße geworfen.

Gewohnt hat auch Enes, wie die meisten seiner Leidensgenossen, in Massenunterkünften. „Es werden von irgendwem, der legale Papiere hat, Wohnungen angemietet und dann so viele Menschen reingestopft, wie irgendwie geht. Als Arbeiter zahlst du dann 300 Euro monatlich für einen Schlafplatz, manchmal in einem Bett, manchmal auf einer Couch oder auch am Boden.“ Als ihm sein Anwerber den Lohn vorenthält, kann Enes die Gebühren für die Unterkunft nicht mehr zahlen. Er fliegt raus, landet auf der Straße. Dort, wo mein Arbeitskollege ihn später findet.

Mafiöse Strukturen

Das System der Subunternehmen ist in Deutschland überall dort fest verankert, wo immer es um schlecht bezahlte und körperlich wie geistig verheerende Arbeit geht: Auf dem Bau, in der Fleischindustrie, in der Agrarwirtschaft, im Transportwesen und der Logistik, in der Gastronomie und in der privaten Pflege.

Das Geschäftsmodell ist einfach: Ein hiesiges Unternehmen bekommt Aufträge. Es gibt große Teile der anfallenden Arbeit weiter an Folgefirmen, bisweilen an eine lange Reihe von Subunternehmern, die ihrerseits wieder Subunternehmen beauftragen. Am Ende der Nahrungskette stehen Arbeiter:innen aus aller Herren Länder – meist aus Osteuropa, in manchen Branchen aber auch außer-europäische Staaten wie Indien -, die oft weit unter Mindestlohn schuften und keine Möglichkeit haben, ihre Rechte geltend zu machen.

„Legal“ ist das alles nicht, geahndet wird es aber ebenso wenig. Und wenn, dann sind es nicht selten die Arbeiter:innen selbst, die bestraft werden, während die Generalunternehmer vorgeben, einfach nichts von den „Problemen“ in ihrer Subunternehmerkette gewusst zu haben. Es haben sich, die Formulierung verwenden auch Zollbeamte in Interviews, weitgehend mafiöse Strukturen herausgebildet.

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Die Maximierung der Ausbeutung funktioniert dabei auf unterschiedliche Art. Nicht alle sind wie Enes vollständig illegal beschäftigt. Viele haben Verträge, arbeiten aber mehr Stunden als sie bezahlt werden oder müssen Abgaben für Quartier oder andere „Leistungen“ an die Ausbeuter abdrücken.

Allein zwischen 2014 und 2022 habe sich, so fasst der Publizist Sascha Lübbe in seinem aktuellen Buch zum Thema zusammen, der Anteil an sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ausländern im Niedriglohnsektor fast verdoppelt, von 590 000 auf 1,1 Millionen. Und für sie alle gilt, wie Lübbe schreibt: „Ausländische Arbeiter im Niedriglohnsektor sind mitunter gesellschaftlich isoliert, leben und arbeiten in prekären Verhältnissen. Einigen fällt es schwer, sich dagegen zu wehren. Weil sich ihre Beschäftigung in einem halblegalen Bereich abspielt, einer Schattenwelt. Die ist eng geknüpft an das System […] der Ausgliederung, bei dem große Unternehmen Aufgaben an Subunternehmen weiterreichen und damit einen Teil der Verantwortung abgeben.

Mit freundlicher Genehmigung des Senats

Den Behörden in Berlin ist dieses Phänomen bekannt. Wie könnte es auch anders sein, man muss wirklich nicht Sherlock Holmes sein, um auf jeder größeren Baustelle Niedriglöhne, mangelnde Sicherheitsstandards und ein Gewirr aus mehr oder minder dubiosen Nachunternehmern auszumachen. Unternommen wird dagegen jedoch nichts. Im Gegenteil. Man scheint im Senat davon auszugehen, dass es besser ist, illegalisierte Niedriglöhner bis aufs Blut auszubeuten, anstatt angemessene Löhne zu bezahlen. Das fängt schon damit an, dass die Ausschreibungskriterien für öffentliche Aufträge oft nur einen Sieger kennen: den günstigsten Anbieter. Andere Kriterien zählen nicht.

Das führt dazu, dass die Bau-Granden, die sich als Kapitalisten natürlich an der Arbeit ihrer Untergebenen bereichern wollen, quasi „gezwungen“ sind, ihrerseits den Druck an Sub-Unternehmer weiterzugeben. Und diese „kleinen“ Kapitalisten, da etwas niedriger in der Rangordnung, können den ausgelobten Preis dann nur halten, wenn sie ihren Malochern weit mehr Stunden zu weit niedrigeren Löhnen als zulässig abpressen. Die politisch Verantwortlichen wissen das. Und sie tolerieren es nicht nur, sie fördern es.

Für die illegal handelnden Baufirmen ist im Umkehrschluss der öffentliche Auftrag wie ein Freibrief zur Ausbeutung. Denn Razzien sind auf Senatsbaustellen deutlich seltener und selbst wenn, kann man sich darauf verlassen, dass die Sache diskret behandelt wird. Man will ja auch im Senat nicht, dass hier etwas an die Öffentlichkeit dringt.

Wenn eine Firma doch einmal auffliegt, etwa weil der Zoll übereifrig war, tut das der Zusammenarbeit trotzdem keinen Abbruch. Wie so etwas aussehen kann, zeigt exemplarisch ein Fall aus der Hauptstadt. Im Jahr 2019 titelte die BZ über diese Firma: „Gegen diesen Berliner Bau-Mogul wird nun ermittelt“ – gemeint ist der Geschäftsführer der ANES, einer großen Berliner Bau-Firma. Der werde „vorgeworfen, ausländische Billiglöhner illegal nach Deutschland gebracht und auf ihren Baustellen ausgebeutet zu haben. Zum Schaden der Opfer, ehrlich arbeitender Mitbewerber und der Sozialkassen“.

Was passierte dann? Erstmal nichts. Zwei Jahre nach der Razzia verleiht der „rot-links-grüne“ Senat den Chefs der ANES den Preis „Vielfalt unternimmt“ für migrantische Unternehmen, ausgelobt von Ramona Pop (Grüne). Bis heute baut die ANES auf öffentlichen Baustellen mit Geldern des Senats und der staädtischen Wohnungsunternehmen. Erst Anfang 2023 verkündete der Senat stolz, dass die kommunale WBM in Pankow „bezahlbaren Wohnraum“ neu errichte. Bauausführung: ANES.

19 Menschen in drei Zimmern

Wechseln wir die Branche. Während der Corona-Zeit arbeitet der indische Koch Amal* auf Bali. Auf Facebook sieht er eine Anzeige: Köche gesucht für ein indisches Restaurant in Berlin. Er nimmt Kontakt auf. Zurück in Indien durchläuft er den langwierigen Prozess für ein Arbeitsvisum in Deutschland. Nach fast einem Jahr steigt er in einen Flieger und landet einige Stunden später in Berlin. Er wird vom Flughafen abgeholt. Kaum in der Unterkunft angelangt, wird ihm sein Pass abgenommen. Man sagt ihm, das sei nötig, schließlich müsse der Arbeitgeber sich um Dokumente, die Verlängerung des Visums und dergleichen kümmern. „Ja und dann hat dieses Martyrium angefangen“, erinnert sich Amal.

Er hat schon zehn Jahre Erfahrung in der Gastronomie. Lange Schichten und Stress auf der Arbeit sind für ihn keine Seltenheit. „Aber das hier in Deutschland war wirklich schlimm. Wirklich schlimm“, betont er immer wieder. Zusammen mit 18 anderen Arbeitern wird er in einer Drei-Zimmer-Wohnung über einem der Restaurants untergebracht, in denen er in den kommenden Monaten bis aufs Letzte ausgepresst wird. Sechs Tage die Woche lässt ihn sein Boss schuften, zuerst von 11 bis 15 Uhr im einen Restaurant, danach von 15:30 bis Mitternacht in einem weiteren Restaurant. Täglich insgesamt dreizehn Stunden Arbeit. Ausgezahlt wird Amal sein Lohn von 1200 Euro immer in bar. Das ist weit unter Mindestlohn. Den letzten Lohn allerdings hat er bis heute nicht bekommen.

„Das Schlimmste aber war die Wohnsituation“, sagt er. „Man kann sich das ja ausrechnen: Wir hatten ein Bad für 19 Menschen, es ist eine Herausforderung da auch nur die normale Körperhygiene zu verrichten“. Amal zeigt uns Bilder: In den kleinen Zimmern stehen Stockbetten. Die Fensterrahmen sind nass, die Wände voller schwarzem Schimmel. Ein Kühlschrank, keine Küche. Ein Verschlag ist mit Plastik verhangen. Dort wohnt ein Vertrauter des Chefs, eine Art Vorarbeiter, wenn man so will. „Er berichtete direkt alles: Wer was sagt, wer zu spät kommt.“

Den Briefkasten, auf dem eine lange Reihe indischer Namen zu lesen ist, leert auch der Chef. Wenn Dokumente ankommen, behält er sie ein. Privatsphäre haben die Inder keine. Leben eigentlich auch keines. Sie haben keine Dokumente, können nicht weg und ihr Alltag besteht nur aus Arbeit, Arbeit, Arbeit und dem Anstehen vor dem eigenen Badezimmer. Einige der Männer trinken, gelegentlich kommt es zu Auseinandersetzungen.

Amal will weg. „Aber so einfach ist das gar nicht. Man hat ja keinen Pass, man kennt niemanden und ist in einer fremden Stadt.“ Amal spricht wenigstens fließend englisch, die anderen jedoch können sich in Berlin kaum verständlich machen. Nach einigen Monaten schafft er mithilfe einer Beratungsstelle den Absprung. Wenig später reitet der Zoll bei seinem Ausbeuter ein. Ob das zu einem Ende der Praktiken jenes Mannes, der zahlreiche Restaurants über Strohmänner führen lässt, beiträgt, steht noch aus. In der Zwischenzeit soll er ein neues Restaurant eröffnet haben.

Unsichtbar, aber überall

Private Pflege, Reinigung, Hochbau, Gastronomie, Logistik, Lebensmittelindustrie, Landwirtschaft, Leiharbeit in der Industrie – wo immer in Deutschland, hart geschuftet wird, wird ein erheblicher Anteil der Arbeit von migrantischen oder ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern verrichtet. Dies geschieht oft weit unter Mindestlohn und abseits von jeglichem Arbeitsschutz.

Die Tricks, die sich die Kapitalisten zur Umsetzung dieser Strategie einfallen lassen, sind vielfältig. Die einen setzen direkt auf Zwangsarbeit von Illegalisierten, andere wahren zumindest noch den Schein und lassen geringfügig Beschäftigte oder Scheinselbstständige Vollzeit arbeiten; wieder andere ziehen vom Lohn überhöhte Mieten für Elendsquartiere ab oder berechnen Gebühren für den Weg nach Deutschland; einige bezahlen einfach gar nicht und lassen ihre Arbeitssklaven wieder abschieben; oder sie holen den Surplus durch massenhaft unbezahlte Überstunden rein. Bei denen, die es beziehen können, ist auch die Kombination von Bürgergeld und schwarz ausgezahltem Niedriglohn nicht selten.

Protest wird im besten Fall mit Entlassung, nicht selten aber auch mit Drohungen oder gar körperlicher Gewalt unterbunden. Diese Art von Arbeit ist in Deutschland kein Randphänomen. Sie ist in vielen Bereichen der Wirtschaft die Regel. Gleichwohl ist sie unsichtbar. Aber ausschließlich deshalb, weil man sie nicht sehen will. Denn wer möchte, kann sie überall problemlos entdecken: auf Baustellen, in Gastro-Küchen, in den Fahrerkabinen der Liefer- und Fahrdiensten oder bei den Putzkolonnen der Großraumbüros.

Warum aber sollte man hier genauer hinsehen? Für die Kapitalisten und ihre Handlanger in der politischen Verwaltung ist dieses System perfekt: Es liefert billige Arbeitskraft und unterbindet die Gegenwehr der Werktätigen. Denn Widerstand oder gar Streik ist angesichts der Sprachbarrieren, der Unkenntnis der eigenen Rechte, der Abhängigkeit vom Arbeitgeber und des meistens noch viel niedrigeren Lohnniveaus in den Herkunftsländern und des allgemeinen gesellschaftlichen Desinteresses extrem schwierig zu organisieren. Das passt auch den politisch Verantwortlichen gut in den Kram. Anders ist jedenfalls die weitgehende Straflosigkeit dieser Praktiken schwer zu erklären.

*alle Namen von Arbeitern sind in diesem Artikel von der Redaktion zu ihrem Schutz verändert worden. Die richtigen Namen liegen uns vor.

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