Das Erstarken der Rechten und die Verfolgung von Antifaschist:innen – Interview zum „Budapest-Komplex“

John Malamatinas ist Journalist, Teil von Budapest-Solikreisen in Berlin und Herausgeber im letatlin Verlag. In diesem ist die deutsche Übersetzung des Comics des italienischen Künstlers Zerocalcare, der sich mit dem Budapest-Komplex befasst, erschienen.

GW: Worum geht es beim „Budapest-Komplex“?

John: So wird eine Reihe von Ermittlungsverfahren in mehreren europäischen Ländern bezeichnet, die sich gegen Antifaschist:innen richten. Auslöser war der „Tag der Ehre“ in Budapest 2023, eine jährliche Zusammenkunft Tausender Rechtsextremer und Neonazis aus ganz Europa.

Auch in diesem Jahr gab es Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und Antifaschist:innen. Diesmal reagierte der ungarische Staat jedoch anders: Noch am selben Tag gründeten die ungarischen Behörden eine Sonderkommission, die europaweit nach den Aktivist:innen fahndete, denen sie u.a. schwere Körperverletzung und versuchten Mord vorwerfen. Dies führte zur Verhaftung mehrerer Personen auch in Deutschland. Die Ermittlungen, aber auch der politische Diskurs darum sind hierzulande eng mit dem „Antifa-Ost“-Verfahren verknüpft und werfen Fragen nach der politischen Motivation der Strafverfolgung, der Verhältnismäßigkeit der Strafen und den Haftbedingungen in Ungarn auf.

GW: Eine der bekanntesten Betroffenen dieser Repression ist Maja. Warum ist Majas Fall besonders?

John: Maja wurde Ende 2023 in Berlin festgenommen und in einer umstrittenen Eilaktion nach Ungarn ausgeliefert, um einer möglichen Intervention des Bundesverfassungsgerichts zuvorzukommen. Dieses erklärte ihre Auslieferung im Februar 2025 für verfassungswidrig. Maja sitzt aber immer noch in Budapest in Untersuchungshaft. Die besonders perfide Rolle der deutschen Behörde zeigt sich, wenn man Majas Fall mit Gabriele vergleicht. Auch er wurde 2023 in Mailand verhaftet, seine Auslieferung wurde aber von der italienischen Staatsanwaltschaft abgelehnt. Begründet wurde dies mit der Strafhöhe, die Ungarn anstrebte, sowie mit den viel kritisierten Haftbedingungen im Land. Dazu beigetragen hat auch ein viel diskutierter Brief Ilarias – einer weiteren Betroffenen, die mittels einer großen Solidaritätskampagne aus dem Gefängnis ins europäische Parlament gewählt wurde – aus dem Gefängnis in Budapest.

Als non-binäre Person ist Maja nun in einem Land inhaftiert, das die Rechte von LGBTIQ*-Menschen massiv einschränkt. Die Anklage gegen Maja führte zu einem Prozess, der die europäische Öffentlichkeit auf die katastrophalen Haftbedingungen in Ungarn aufmerksam machte. Ein angebotener Deal sieht 14 Jahre Haft vor, bei Ablehnung drohen bis zu 24 Jahre. Majas Erklärung bei der Anhörung, bei der Maja an einer Leine mit Handschellen und Fußfesseln in den Gerichtssaal geführt wurde, schildert erschütternde Haftbedingungen: Langzeiteinzelhaft, entwürdigende Behandlung, mangelnde medizinische Versorgung und fehlende elementare Bedürfnisse. Sogar das Auswärtige Amt sah sich genötigt,die ungarische Justiz scharf zu kritisieren.

Veranstaltung mit J.Malamatinas zum Budapest-Komplex

GW: Wer ist noch von dieser Repressionswelle betroffen und droht ihnen auch eine Auslieferung nach Ungarn?

John: Im Mai 2024 wurde Hanna in Nürnberg verhaftet, obwohl kein ungarischer Haftbefehl vorlag. Die Verhaftung basierte auf deutschen Ermittlungen, die Anschuldigungen der ungarischen Behörden übernahmen. Hanna wird unter anderem versuchter Mord vorgeworfen. Ihr Prozess begann am 19. Februar in München. Im November 2024 folgten weitere Festnahmen: Johann, der auch im Antifa-Ost-Komplex beschuldigt wird, befindet sich in deutscher Untersuchungshaft. Gino, der bereits in Finnland aufgrund eines europäischen Haftbefehls inhaftiert war, wurde in Paris erneut festgenommen. Dort wird derzeit über seine Auslieferung nach Ungarn entschieden, gegen die sich eine breite Solidaritätskampagne formiert. Da Gino albanischer Staatsbürger ist, droht ihm im Falle einer verhinderten Auslieferung nach Ungarn die Abschiebung nach Albanien, von wo aus er wiederum ausgeliefert werden könnte.

Am 20. Januar stellten sich sieben von neun Gesuchten im Zusammenhang mit dem Budapest-Komplex in Deutschland den Behörden. Sechs von ihnen werden voraussichtlich in Deutschland angeklagt. Eine Ausnahme bildet Zaid, der sich aufgrund eines ausschließlich ungarischen Haftbefehls in Auslieferungshaft in Köln befindet. Als syrischer Staatsbürger in einem laufenden Einbürgerungsverfahren, das ausgesetzt wurde, befindet er sich in einer rechtlich prekären Lage. Da ihm als Nicht-Deutscher nicht die gleichen Schutzmechanismen zustehen, dient seine Abschiebehaft der Sicherung seiner Auslieferung nach Ungarn. Zudem droht ihm die Abschiebung nach Syrien, was seinen Fall besonders brisant macht. Vor wenigen Tagen stellte sich außerdem eine weitere Antifaschistin namens Emmi.

GW: Welche Rolle spielt das Regime in Ungarn bei den Verfolgungen der Antifaschist:innen?

John: Viktor Orbáns Regierung in Ungarn hat in den letzten Jahren immer weiter autoritäre Züge angenommen. Durch Verfassungsänderungen und die Besetzung wichtiger Positionen in Justiz und Medien hat Orbán seine Macht gefestigt. Kritiker:innen werfen ihm vor, die Gewaltenteilung zu untergraben und die Meinungsfreiheit einzuschränken. Ein neues Gesetz verbietet Pride-Veranstaltungen und erlaubt den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware zur Identifizierung von Teilnehmer:innen.Inwiefern hier überhaupt noch von Demokratie gesprochen werden kann, wird zu Recht kontrovers diskutiert. Die EU hat wiederholt Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn geäußert.

Orbán und seine Regierung instrumentalisieren den Begriff „Antifaschismus“, um politische Gegner zu diffamieren und ein Klima der Angst zu schaffen. Sie bedienen sich einer geschichtsrevisionistischen Erzählung, die antifaschistische Gegenwehr als Angriff auf die Souveränität Ungarns darstellt. Diese Strategie dient der Schaffung einer homogenen nationalen Identität. Die Verfolgung von Antifaschist:innen im „Budapest-Komplex“ ist ein Beispiel für die Repression gegen Oppositionelle und für das ungarische Nation-Building unter Orbán.

Cover des Comics “Diese Nacht wird keine kurze sein”

GW: Nun ist ja Ungarns Regime nicht das einzige rechte in Europa. Wie setzt du den „Budapest-Komplex“ in einen größeren Kontext des Erstarkens rechter und faschistischer Kräfte insgesamt?

John: Der „Budapest-Komplex“ offenbart die wachsende Bedeutung und Vernetzung rechtsextremer Kräfte in Europa. Der „Tag der Ehre“ in Budapest dient als zentraler Treffpunkt dieser Szene und verdeutlicht ihre grenzüberschreitende Vernetzung. Diese Veranstaltungen sind Plattformen zur Mobilisierung von Anhänger:innen und zur Verbreitung rechtsextremer Propaganda, wobei moderne Kommunikationstechnologien eine entscheidende Rolle spielen. Rechte und rechtsextreme Parteien gewinnen in vielen europäischen Ländern an Einfluss, ich denke da z.B.an Frankreich, Italien, Griechenland, Polen, Skandinavien und natürlich Deutschland. Sie nutzen nationalistische, rassistische und geschichtsrevisionistische Narrative und mobilisieren immer wieder gegen ihre Feinde – migrantisch gelesene Menschen, LGBTIQ*, Linke, Antifaschist:innen und viele mehr.

Der „Budapest-Komplex“ offenbart nun ganz konkret, wie antifaschistische Gegenwehr kriminalisiert und die Strafverfolgung von Antifaschist:innen politisch instrumentalisiert wird. Dies gefährdet nicht nur antifaschistische Praxis im Konkreten, sondern die demokratische Zivilgesellschaft allgemein, die in Ländern mit einer starken Rechten oder einer rechten Regierung ohnehin unter Druck steht. Mit anderen Worten: Der „Budapest-Komplex“ trifft Antifaschist:innen unmittelbar und direkt, aber er geht alle an, die sich dem Erstarken der Rechten in den Weg stellen wollen.

GW: Du hast ja schon das „Antifa-Ost-Verfahren“ angesprochen. Wie ist der Zusammenhang zum „Budapest-Komplex“?

John: Das „Antifa-Ost“-Verfahren verfolgt seit 2018 mutmaßliche antifaschistische Aktivitäten in Sachsen und Thüringen. Die Soko Linx des LKA Sachsen wird für ihre weitreichenden Interpretationen und ihre Rolle in diesem Komplex kritisiert; diese Soko war maßgeblich daran beteiligt, dass Maja in einer nächtlichen Aktion nach Ungarn ausgeliefert wurde. Der Fall Lina, verurteilt wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, erregte besondere Aufmerksamkeit. Beide Verfahren, „Antifa-Ost“ und „Budapest-Komplex“, sind verknüpft und zeigen die grenzüberschreitende Verfolgung antifaschistischer Aktivist:innen. Die Kritik an der politischen Instrumentalisierung der Strafverfolgung wird durch die Haltung der ungarischen Regierung verstärkt.

GW: Was für politisch Konsequenzen ziehst Du aus dem „Budapest-Komplex“?

John: Erstens müssen wir uns die laufenden Ermittlungen und Prozesse genauer anschauen, sie laufen ja noch. Schon jetzt werfen sie grundlegende Fragen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden, zur Definition des Begriffs „kriminelle Vereinigung“, zur Legitimität von Protest und zur Verhältnismäßigkeit der angedrohten Freiheitsstrafen auf. Antifaschismus und „Linksextremismus“ werden als Gefahren Nummer 1 dargestellt. Insbesondere die hohen Strafen führen europaweit zu Diskussionen über eine mögliche politische Motivation der Strafverfolgung antifaschistischer Aktivist:innen in einer Zeit, in der rechte bis rechtsextreme Kräfte in Europa zunehmend politischen Einfluss gewinnen.

Zweitens ist der „Budapest-Komplex“ ein deutliches Symptom für die wachsende Bedeutung und Vernetzung rechter und rechtsextremer Kräfte in Europa, sie sind und werden teilweise hegemonial und lenken die volle Härte staatlicher Verfolgung gegen Linke und Antifaschist:innen. Angesichts dieser massiven Kriminalisierung und des Rechtsrucks ist es unerlässlich, die Strategien von Antifa neu zu überdenken. Die Bekämpfung des Faschismus muss auch politisch erfolgen, indem Gegenmacht aufgebaut, eigene Strukturen geschaffen, alternative Angebote entwickelt und langfristige Strategien verfolgt werden, anstatt lediglich auf einzelne Ereignisse zu reagieren.

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