Schaut nicht weg!

Frau hält Schild mit der Aufschrift: "Man(n) Tötet nicht aus Liebe!"

„Geh nachts nicht allein raus und zieh keinen kurzen Rock an!“

Schon jungen Mädchen wird beigebracht, dass ihnen männliche Gewalt begegnen wird. Sie lernen verschiedene Taktiken um sich zu schützen, versuchen zu verhindern auf dem Heimweg verfolgt oder angesprochen zu werden. Warum ist die Sicherheit von Frauen abhängig davon, wie „anständig“ sie sich verhalten wenn sie sich in die Öffentlichkeit begeben? Und was ist, wenn die Gefahr zuhause auf sie wartet?

Die meisten Gewalterfahrungen machen Frauen nicht mit Fremden, sondern in ihrem engen Umfeld. Oftmals ist der Täter der Partner und Frauen brauchen durchschnittlich sieben Jahre, um sich von ihrem gewalttätigen Partner zu befreien. Schuldgefühle, gemeinsame Kinder, finanzielle Abhängigkeit und anhaltende Drohungen durch den Partner erschweren den Prozess. Selbst wenn die Entscheidung zur Trennung gefallen ist bleibt die Frage: Wohin nun?

Ein erster Anlaufpunkt wäre ein Frauenhaus; davon gibt es in Berlin ganze sieben mit insgesamt 420 Plätzen. Laut der „Istanbul Konvention“, die dem Schutz von Frauen vor Gewalt dient, müssen ausreichend Notfallplätze – ein Notfallplatz umfasst Raum für eine Frau und ein bis zwei Kinder – vorhanden sein. Die vorhandenen Plätze decken also nicht mal die Hälfte der in der „Istanbul Konvention“ festgelegten ab. Entsprechend schwer gestaltet sich die Suche nach freien Plätzen. Auf der Website frauenhaus-suche.de wird schnell ersichtlich, dass in keinem der sieben Berliner Frauenhäuser aktuell eine Aufnahme möglich ist.

Im Stadtteil Lichtenberg gibt es trotz der ernsten Lage kein einziges Frauenhaus. Seit September 2022 gab es hier drei Femizide. Das heißt, drei Frauen wurden aufgrund ihres Geschlechts beziehungsweise ihrer Weiblichkeit ermordet. Der Begriff des Femizids soll veranschaulichen, dass hinter diesen Morden immer ein Mann steht, der denkt er sei im Recht eine Frau zu ermorden, weil sie eine bestimmte Geschlechterrolle hat, weil er denkt, er besitze die Frau, könne über sie entscheiden, könne über ihr Leben, ihre Zukunft und letztendlich auch über ihren Tod entscheiden. Dieses Denkmuster muss nicht immer gleich zum Mord führen. Gewalttätige Männer rechtfertigen so auch diverse andere Formen von Gewalt gegen Frauen.

„Wenn ich dich nicht kriege, kriegt dich keiner.“ Das sagte der Ex-Mann einer Lichtenberger Nachbarin. Sie erzählt uns ihre Geschichte. „Das Schlimmste ist: Die meiste Gewalt passiert von den Leuten, denen man am meisten vertraut.“ Sie heiratete mit 20 Jahren. „Nach fünf Jahren habe ich dann gemerkt, er wurde ganz anders, krankhaft eifersüchtig.“ Insgesamt war sie 48 Mal im Krankenhaus wegen Verletzungen, die er ihr zugefügt hat. Die Verletzungen wurden im Krankenhaus fotografiert und dokumentiert.

„Ich habe sehr lange gebraucht bis ich ihn angezeigt habe.“ Sie erzählt: „Ich war sehr oft auf dem Polizeirevier und wollte ihn anzeigen. ‚Sie sind das zweite Mal vergewaltigt worden. Was hatten Sie an? Haben Sie sich ihm genähert? Haben Sie es vielleicht rausgefordert?‘ So haben sie mit dir geredet.“ Anschließend zwang ihr Ex-Mann sie ihre Anzeigen zurückzunehmen.

Er drohte ihr und ihren Kindern mit Gewalt. „Er hat auch Strafen gekriegt, aber immer Bewährungsstrafen. Das habe ich dann doppelt zurück gekriegt.“ Später bekam sie dann im Krankenhaus Hilfe vom Weißen Ring und konnte in ein Frauenhaus und mit Unterstützung vom Jugendamt konnte sie auch ihre Kinder in Sicherheit bringen.

Erst die Sicherheit für sie und ihre Kinder ermöglichte es ihr, sich zu wehren. Sie machte eine Psychotherapie und lernte Taekwondo. Aber die Gefahr war nicht vorbei. „Er hat mich gesucht, das wusste ich. Wenn ich zu meiner Schwester gefahren bin, bin ich immer nur nachts gefahren, weil ich dachte der fängt mich da ab.“ Mit der Unterstützung einer Anwältin vom Weißen Ring kam es zu einer Gerichtsverhandlung wegen Körperverletzung und Vergewaltigung. Der Ex-Mann sollte 4 Jahre und 8 Monate ins Gefängnis, doch er starb in einem Unfall. „Ich habe gelacht, ich habe laut Musik angemacht, ich habe getanzt.“ In der Vergangenheit musste sie viel kämpfen, doch nun möchte sie nach vorne blicken. ,,Ich habe mir gesagt: Niemand schlägt mich mehr, niemand besitzt mich mehr, niemand ändert mich mehr und niemand sagt mir mehr was ich zu machen habe.“ Dieser Schritt hat Jahre gebraucht. Damals haben Nachbar:innen gesehen was passiert ist, haben aber weggeguckt, sind weiter gegangen.

„Ich hätte nur mit jemandem mal reden müssen. Man sollte sich jemandem anvertrauen und ich würde allen Menschen den Rat geben, nicht wegzuschauen. Wenn jemand immer blaue Flecken hat, wenn jemand immer blaue Augen hat würde ich fragen: ‚Ist alles in Ordnung? Du kannst immer mit mir reden.‘ Das ist wichtig, dass man merkt, man ist nicht allein.“

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